Demokratie als Lebensform – für den Gewerkschafter Tom Kehrbaum ist dieser von dem amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey geprägte Begriff seit einigen Jahren zum roten Faden in der Praxis der eigenen gewerkschaftlichen Bildungsarbeit geworden. Demokratie ist dabei weit mehr als eine Regierungsform, sondern sie beschreibt die Form des Zusammenlebens, des alltäglichen Miteinanders und der geteilten Erfahrungen der Menschen. Dazu braucht es ein partizipatives, ergebnisoffenes Lernen, welches Menschen Freiheitsräume für Erfahrungen eröffnet.
Demokratie als Lebensform ist ein Bild, das auch den Ökonomen Lukas Bäuerle sehr anspricht, weil es dazu auffordert, dass wir uns als Gesellschaft neu, agiler und kollaborativer begreifen und Transformation als eine gemeinsame Kraftanstrengung verstehen.
Lukas Bäuerle forscht und lehrt am Lehrstuhl für Wissenschafts- und Innovationsforschung an der Universität Hamburg im Fachbereich Sozialökonomie. Er beschäftigt sich mit der grundsätzlichen Ausrichtung der Ökonomik und der ökonomischen Bildung und der Rolle der Wirtschaftswissenschaften in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Gemeinsam mit anderen gründete er u.a. das Netzwerk Plurale Ökonomik und die Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung.
Tom Kehrbaum ist gelernter Industriemechaniker und heute Erziehungswissenschaftler. Beim Vorstand der IG Metall entwickelt er die gewerkschaftliche Bildung theoretisch und praktisch weiter. „Zwischenmenschliche Bildung und politische Handlungsfähigkeit“ ist einer seiner Schwerpunkte. Ihn bewegt die Frage: Wie können angesichts der krisenhaften gesellschaftlichen Herausforderungen gemeinschaftsstärkende Bildungsprozesse einen Beitrag zum Erhalt unserer demokratischen Lebensform bilden?
Kehrbaum und Bäuerle waren als Referenten für den ersten Teil des Thementags „Bildung“ innerhalb der Themenwoche zur Transformation der Arbeit (3.-7. Juli 2023) eingeladen. „Zukunft machen lernen“ war das Motto des Thementags.
Kann die Standardökonomie die Studierenden dazu befähigen, die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen zu erkennen und diese dann auch anzustoßen? Wohl kaum, das ist die Erkenntnis von Lukas Bäuerle aus seiner beruflichen Praxis an der Hochschule. Vielmehr sieht er die Standardökonomie als Teil des Problems. Die pädagogischen Antworten reichen schon lange nicht mehr aus: „Die Welt da draußen bleibt mehr oder weniger draußen. Das Wissen, das die Studierenden zu reproduzieren haben, hat mit der Welt draußen immer weniger zu tun“ (Bäuerle) Diese Erkenntnis gab den Anstoß zur Entwicklung einer eigenen Lerntheorie gemeinsam mit Silja Graupe: „die Spirale des transformativen Lernens“.
Neu sein, neu denken, neu handeln sind die drei wesentlichen Bewegungen innerhalb eines sich spiralförmig entwickelnden offenen Lernprozesses. Öffentliche und persönliche Disruptionen werden dabei bewusst nicht draußen gelassen, sondern sie setzen einen Vorgang des Sich-Öffnens und Neu-Ausrichtens und des verantwortlichen Handelns in Gang. Offene Lehr-Lern-Situationen ermöglichen eine gemeinsame pädagogische Praxis und sollen schließlich dazu befähigen, selbst sinnstiftend zu wirken und zu handeln.
Das gemeinsame Lernen und Sammeln von Erfahrungen steht auch im Fokus der Bildungsarbeit und des Bildungsverständnisses von Tom Kehrbaum im gewerkschaftlichen Kontext. Den so genannten Treibern der Transformation – Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demographie – fügt er als „4. D“ die Demokratie hinzu. Demokratie verstanden als Lebensform, die aus gewerkschaftlicher Perspektive sich vor allem im Ausmaß der Mitbestimmung und Beteiligung von Menschen an Veränderungsprozessen zeigt. Als Bildungsziel sieht er eine demokratische Humanisierung der Transformation. Die Demokratisierung der wirtschaftlichen Prozesse ist seit jeher ein zentrales Thema der Gewerkschaften und eine selbstorganisierte Bildung ein unverzichtbares Mittel dazu. Die Übernahme von Verantwortung, beispielsweise als Betriebsrat/-rätin, geht einher mit persönlichen Bildungsprozessen.
Wer könnte der Impulsgeber für eine neue Bildungsinitiative im Transformationsprozess sein? Es gibt unterschiedliche Verantwortlichkeiten und Machtverhältnisse. Rahmensetzungen erfolgen zumeist auf der Ebene von Ministerien. Aber damit sich etwas ändert, braucht es gemeinsame Kraftanstrengungen auf allen Ebenen. Der Gewerkschafter Kehrbaum setzt neben kollektiven Bestrebungen zum Beispiel auch auf das Eins-zu-Eins-Gespräch. Im Gewerkschaftskontext werden sogenannte Weiterbildungsmentor*innen ausgebildet, die gemeinsam mit den Arbeitnehmer*innen nach Gestaltungs- und Veränderungsmöglichkeiten suchen. Menschen sagen selber, was sie lernen wollen.
Von seinen Studierenden erwartet Lukas Bäuerle, dass sie die Freiheitsgrade nutzen, die ihnen ein Studium bietet, und eigene Wege finden, um ein für sie persönlich sinnvolles Studium zu erleben. „Nicht auf den großen Wurf warten!“ empfiehlt Lukas Bäuerle, „damit wir alle kleine Transformationserlebnisse in unserem Alltag mitnehmen können“.
Alle Beiträge der Themenwoche, darunter auch das Modul „Bildung: Zukunft machen (lernen)“ mit Tom Kehrbaum und Lukas Bäuerle, moderiert von Christiane Wessels, finden Sie hier: https://www.youtube.com/channel/UCiovYH1KxW_1wDQXymaBB0g