Digitale Gewalt ist ein Phänomen, von dem seit einigen Jahren immer mehr Frauen und Mädchen betroffen sind. Was genau darunter zu verstehen ist, wie digitale Gewalt funktioniert, was sie für die Betroffenen bedeutet und was passieren muss, um sie einzudämmen, davon berichtete Professorin Nivedita Prasad am 21.03.2024 in einer Online Veranstaltung.
Mehr als 80 Teilnehmer*innen nahmen an dem zweiten Modul der Reihe „Die (neue) Gewalt gegen Frauen“ teil, die vom Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN, der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen (eaf hessen), dem Verband der Ev. Frauen in Hessen und Nassau und dem Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt organisiert wurde.
Das Fallbeispiel
Nivedita Prasad, Professorin für genderspezifische soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin, arbeitet in ihrer Forschung zur Gewalt gegen Frauen eng mit dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) zusammen. An einem realen Fallbeispiel stellt Prasad sehr anschaulich die Parallelen digitaler Gewalt zu analoger Gewalt gegen Frauen dar, aber auch die Besonderheiten: Auf einer Betriebsfeier kommt es zu einem einvernehmlichem Sexualkontakt zwischen zwei (alkoholisierten) befreundeten Kolleg*innen. Der männliche Kollege macht nicht-einvernehmliche Videoaufnahmen, auf denen die Kollegin eindeutig zu erkennen ist. Er zeigt diese Aufnahmen später unter Kolleg*innen herum. Aber erst der fünfte Kollege zeigt sich solidarisch und informiert die betroffene Kollegin. Das Besondere dieser Situation ist, dass der Sexualkontakt zwar einvernehmlich stattfand, dagegen aber nicht das Anfertigen von Aufnahmen noch deren Verbreitung bzw. Herumzeigen. Es gibt Parallelen zu analoger Gewalt: die Scham der Frau, nicht des Täters; das „Victim Blaming“ (sie war betrunken, hat sich mit einem Kollegen eingelassen, auf der Toilette); und unsolidarische Zeug*innen. Prasad weist allerdings auf einen wichtigen Unterschied zu analoger Gewalt hin: „Bei einer Vergewaltigung weiß man, wann es vorbei ist, bei digitaler Gewalt weiß man es nicht, es ist unklar, ob es jemals aufhört und wer vielleicht Kopien besitzt.“ Die Folgen für die Betroffene sind gravierend – Schuld- und Schamgefühle, massive Verunsicherung und psychosomatische Beschwerden.
Wer ist betroffen?
Eine Trennung zwischen digitaler und analoger Gewalt erweise sich häufig als wenig sinnvoll – so Prasad. Denn die meisten Betroffenen im Fall von häuslicher Gewalt würden analoge und digitale Gewalt erleben, sodass diese Differenzierung perspektivisch obsolet sein wird. Geschlechtsspezifische digitale Gewalt im sozialer Nahraum trifft Frauen vor allem, wenn ein Beziehungsbegehren abgelehnt wird oder nach der Beendigung einer Beziehung. Ziel der Täter ist es dann, Macht zu demonstrieren, Frauen zu kontrollieren und einzuschüchtern. Formen digitaler Gewalt sind beispielsweise das Installieren von Spy-Apps, Cyberstalking, das Hacken von Konten oder Deepfaking (hier werden Gesichter von Personen in Pornos hineinmontiert).
Bislang sei die Erfassung digitaler Gewalt allerdings insgesamt noch sehr lückenhaft, und wenn sie erfasst wird, wird oft nicht zwischen verschiedenen Formen differenziert. Dann ist oft nicht eindeutig, ob es sich um anonyme Hate Speech oder digitale Gewalt im sozialen Nahraum handelt. Online Hate Speech findet meist gegenüber (öffentlichen) Personen und/oder Haltungen statt, die sich für die Verbesserung von Lebensbedingungen von marginalisierten Gruppen einsetzen. Zum Beispiel werden Frauen und Transpersonen bei Hate Speech häufig im Kontext ihrer Geschlechtszugehörigkeit oder -identität angegriffen, rassifizierte Personen werden auch rassistisch angegriffen, behinderte Personen werden auch ableistisch angegriffen. Angriffe potenzieren sich intersektional. Online Hate Speech findet oft anonym statt, aber auch zunehmend in privaten Chatgruppen (Familie, Arbeit, Schule etc.)
Aktuelle Studien zeigen, dass „Alter“ das stärkste Differenzmerkmal ist, mit anderen Worten: je jünger, desto gefährdeter sind Menschen – was wohl auch damit zusammenhängt, dass junge Menschen sehr viel online aktiv sind. Und: Digitale Gewalt kann aktuell noch relativ risikolos verübt werden kann. Die Hoffnung Prasads für kommende Generationen ist, dass sich der rechtsfreie Raum reduziert und durch die Strafbarkeit und Durchsetzung von gesetzlichen Regelungen digitale Gewalt zurückgeht. So können Menschen besser geschützt werden.
Was kann zur Prävention getan werden?
Ratschläge an Frauen, wie zum Beispiel die Sicherheitseinstellungen zu verändern oder sich zumindest zeitweise aus dem digitalen Raum zurückzuziehen, sieht Prasad eher problematisch, denn hier fände eine Täter-Opfer-Umkehr statt.
Nivedita Prasad fordert unter anderem, dass sehr viel mehr Schulungen zur Sensibilisierung und Aufklärung gemacht werden, sowohl bei Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen, aber auch bei Strafverfolgungsbehörden und Justiz. Ohnehin sieht sie im straf- und zivilrechtlichen Bereich noch großen Nachholbedarf. Es brauche weitaus mehr Klarheit in der Rechtsprechung und zudem auch spezialisierte Anwält*innen für diese anspruchsvolle Materie. Sie fordert mehr rechtliche Regelungen, welche die Technik begrenzen und zum Beispiel sogenannte Spy Apps oder geräuschloses Fotografieren unmöglich machen. Außerdem seien auch die Plattformbetreiber mehr in die Verantwortung zu nehmen.
Wie das Beispiel am Anfang gezeigt habe, seien die Betroffenen aber auch auf die Solidarität in ihrem Umfeld angewiesen, zum Beispiel durch Familie und Freund*innen, aber auch Kolleg*innen, die nicht wegschauen und Vorgesetzte, die die Täter zur Rechenschaft ziehen.
Ausblick: Im letzten Modul der Online Reihe „Die (neue) Gewalt gegen Frauen“ wechseln wir noch einmal die Perspektive. Nach der Journalistin Susanne Kaiser und der Professorin für Soziale Arbeit Nivedita Prasad wird 16.04.2024, 19:30-21:00 Uhr die Anwältin und Publizistin Asha Hedayti ihre Analyse präsentieren: „Die stille Gewalt an Frauen“.
Hier finden Sie den Download des Sammelbands „Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung“ https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5281-9/geschlechtsspezifische-gewalt-in-zeiten-der-digitalisierung/
Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:
- Clara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.
- Madalina Draghici und Lisa Freieck, Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt
- Franziska Wallenta, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen
- Dr. Christiane Wessels, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, FB Erwachsenenbildung und Familienbildung