Die stille Gewalt gegen Frauen

Zum Abschluss der Online-Reihe „Die (neue) Gewalt gegen Frauen“ hat die Rechtsanwältin und Publizistin Asha Hedayati über ihre langjährige Berufserfahrung an Familiengerichten erzählt und welche Gewalterfahrungen Frauen nicht nur während einer Beziehung machen, sondern wie sich diese beim Gang durch die staatlichen Institutionen fortsetzt. 

Knapp 100 Teilnehmer*innen nahmen am 16.04.2024 an diesem letzten Abend teil, der vom Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN, der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen (eaf hessen), dem Verband der Ev. Frauen in Hessen und Nassau und dem Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt organisiert wurde.

Maria und die Folgen wirtschaftlicher Gewalt

Asha Hedayati praktiziert seit mehr als zehn Jahren als Anwältin für Familienrecht in Berlin. In dieser Zeit hat sie unzählige Mandant*innen begleitet, vor allem in Scheidungs-, Kindschafts- und Gewaltschutzverfahren. Eine dieser Mandantinnen ist Maria, die eigentlich anders heißt. Maria lernte in der Ausbildung mit Mitte 20 ihren Freund kennen. Da er eine große Wohnung hatte, zogen sie bereits nach einem halben Jahr zusammen. Nach dem Umzug veränderte sich sein zu Anfang so liebevolles und aufmerksames Verhalten, er wurde immer kontrollierender und isolierte sie von Familie und Freund*innen. Sein Verhalten wirkte sich auch auf Marias Gesundheit aus, sie war häufig krank und verpasste Zeit während der Ausbildung, sie dachte über eine Trennung nach, hoffte aber gleichzeitig, dass die schöne Anfangszeit wieder zurückkommen würde. Außerdem hätte sie nicht gewusst, wo sie hingehen sollte, wenn sie sich trennen würde, da er (bisher) keine physische Gewalt angewendet hatte, erschien ihr ein Frauenhaus nicht als Option. An dieser Stelle wies Hedayati explizit darauf hin, dass physische Gewalterfahrungen keine Voraussetzung für eine Aufnahme in ein Frauenhaus sind.

Kurz vor Ende ihrer Ausbildung wurde Maria ungeplant schwanger und die Beziehungssituation eskalierte weiter. Ihr Partner drohte ihr, sollte sie es wagen sein Kind abzutreiben. Im fünften Monat der Schwangerschaft wurde er erstmals auch körperlich gewalttätig. Jede Frustration ließ er an Maria aus, Stress im Job, Ärger über das schreiende Baby, Unzufriedenheit damit, wie sie den Haushalt organisierte. Weil Maria wusste, dass sie sich in Teilzeit als Alleinerziehende keine Miete leisten könnte und von Armut bedroht wäre, blieb sie trotzdem bei ihm. Der Kipppunkt kam, als ihr knapp 2-jähriges Kind versuchte, sie vor der Gewalt seines Vaters zu schützen – sie packte ihr Kind und ein paar Sachen und ging in ein Frauenhaus.

Unbezahlte Care-Arbeit als Fehler des Systems

Maria zeigt exemplarisch für zahllose Frauen, wie sehr die Gesellschaft darauf angewiesen ist, dass Menschen – meist Frauen – zuhause unbezahlte Care-Arbeit übernehmen. Und wie wenig ihnen das gedankt wird, gerade dann, wenn das Leben aus der Bahn gerät. Die Gesellschaft und der Staat sind darauf angewiesen, dass es eine funktionierende Kernfamilie gibt, in der viel Care-Arbeit unentgeltlich verrichtet wird, sonst ist eine Vollbeschäftigung für die meisten Menschen gar nicht denkbar, besonders mit Kindern. Oder die private Care-Arbeit wird ausgelagert, meist an weniger privilegierte Frauen, die aus wirtschaftlichen Zwängen heraus keine andere Wahl haben. Betroffen sind oft migrantische Frauen, die mit ihrer Arbeit nicht nur sich selbst, sondern auch noch Kinder oder andere Familienmitglieder in ihren Herkunftsländern unterstützen.

Die Verteilung der Care-Arbeit ist nicht nur Ausdruck einer privaten Entscheidung, sie wird durch strukturelle Zwänge vorgegeben und durch politische Entscheidungen (z.B. Ehegattensplitting) gefördert. Aufgrund dieser Strukturen können sich gewaltbetroffene Frauen, wie Maria, die in Teilzeit in einem systemrelevanten Care-Beruf arbeitet, nicht einfach so trennen, weil sie sich von ihrem Einkommen keine Miete leisten können. Weil sie, wie Hedayati sagt, als alleinerziehende Mutter oft nur die Wahl zwischen Armut und Burn-out haben und am Ende wahrscheinlich beides bekommen. Selbst jede dritte Frau mit einer Vollzeitbeschäftigung kann nach 40 Arbeitsjahren mit nicht einmal 1.000 Euro Rente rechnen. Das sind handfeste Gründe, warum viele, gerade ältere Frauen, in gewaltvollen Beziehungen bleiben, oder warum fast alle von Hedayatis Mandant*innen mehrere Anläufe brauchen, um sich zu trennen – Gründe, die meist unsichtbar bleiben.

Kann man es als Mutter nur falsch machen?

In Sorge- und Umgangsrechtsprozessen wird Partnerschaftsgewalt von Familiengerichten kaum berücksichtigt. Es wird eine künstliche Trennung zwischen der Partnerschaftsebene und der Elternebene konstruiert und von den Müttern erwartet, dass sie sofort wieder in der Lage sein sollen den Umgang, und die damit verbundene Übergabe des Kindes, an den Ex-Partner zu ermöglichen. Können sie das nicht, kann ihnen das als Kindeswohlgefährdung ausgelegt werden. Genauso wie eine zu kleine Wohnung, in der das Kind keinen ausreichenden Rückzugsraum hat. Und genauso wie das Verbleiben in einer gewaltsamen Beziehung, da das Erleben von Gewalt zwischen den Eltern, natürlich ebenfalls das Wohl des Kindes gefährdet. Der Kindeswohlbegriff ist dabei nicht ausreichend definiert und es gilt oft die Regelvermutung, dass das Kind schnellstmöglich wieder zu beiden Elternteilen Kontakt haben soll. Hedayati plädiert dafür, diese Regelvermutung bei Anhaltspunkten für häusliche Gewalt abzuschaffen.[1]

Das institutionelle Schweigen

Zu oft schweigen staatliche Institutionen wie Gerichte, Polizei oder Jugendämter zu Gewalt gegen Frauen, was diese Gewalt stützt und verstärkt. Die wirtschaftliche Gewalt und Abhängigkeit wurden an Marias Beispiel deutlich. Dazu kommt, dass Behörden und Gerichte die Gewalt oft fortsetzen, und zwar durch Täter-Opfer-Umkehr oder eine Verantwortungsverschiebung, die einseitig zu Lasten der Frauen und Mütter geht. Mit der 2018 in Deutschland in Kraft getretenen Istanbul-Konvention gibt es eigentlich einen guten Werkzeugkasten, um Gewalt gegen Frauen zu begegnen, allerdings wird sie mangelhaft umgesetzt. 

Hedayatis Erfahrung aus der Praxis ist, dass es vielfach an Wissen und nötigen Fort- und Weiterbildungen fehlt. Wenn es immer noch Richter*innen gibt, die gar nicht wissen, dass es die Istanbul-Konvention gibt und was sie beinhaltet, ist es wenig verwunderlich, dass ihre Standards nicht angewendet werden. Generell fehlt es an der nötigen Sensibilität für verschiedene Gewaltformen und den Umgang mit Betroffenen. Neben der fehlenden Rechtsumsetzung gibt es allerdings auch echten Nachbesserungsbedarf, etwa die Definition des „Kindeswohls“ oder die rechtliche Schlechterstellung von Frauen ohne deutsche Staatsbürgerschaft oder eigenständigen Aufenthaltstitel[2].

Hoffnung und Utopie

Zum Abschluss blickt Hedayati noch einmal kritisch auf die Wahrnehmung von Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Für viele sei Gewalt gegen Frauen schon so normal geworden, dass ihr Fehlen geradezu als eine Utopie erscheine. Mit dem mantraartigen Wiederholen statistischer Opferzahlen werde sie quasi als gegeben hingenommen. Die Einrichtung von mehr Frauenhausplätzen sei zwar wichtig, aber „noch wichtiger ist es, in echte Prävention zu investieren“, so Hedayati. Die Verantwortung für Gesundheit und Leben von Frauen dürfe nicht von engagierten Initiativen und Einzelpersonen abhängig sein, vielmehr müssten die Strukturen und Entscheidungsträger*innen in die Verantwortung genommen werden. Zumal Deutschland gerne auf andere Länder verweist, in denen Frauen nichts ohne ihre Männer tun und entscheiden dürfen, um sich der vermeintlichen eigenen Gleichstellung zu versichern. Doch wie ehrlich kann das sein, wenn auch in Deutschland Frauen nicht vor patriarchaler Gewalt geschützt werden und ihnen Teilhabe und Freiheit nicht möglich sind?

Trotzdem und trotz aller Erfahrungen in ihrem Beruf hat Asha Hedayati Hoffnung: „Es gibt wenig, was so hoffnungsstiftend ist, wie gewaltbetroffene Personen auf dem Weg aus ihrer Beziehung heraus zu begleiten und zu sehen, wie sie sich verändern und aufblühen.“ Außerdem nimmt sie wahr, dass das mediale und öffentliche Interesse steigt und auch wieder stärker über Gewalt gegen Frauen debattiert werde, auch das gibt ihr Hoffnung für die Zukunft.

Informationen

Asha Hedayati – Die stille Gewalt. Wie der Staat Frauen alleinlässt, Rowohlt Polaris 2023

Schutz und Hilfe bei häuslicher Gewalt. Ein interdisziplinärer Online-Kurs: https://haeuslichegewalt.elearning-gewaltschutz.de/ wurde von mehreren Teilnehmer*innen empfohlen

Studie zum Familienrecht von Dr. Wolfgang Hammer, wichtige Punkte zu mütterfeindlichen Praktiken an Familiengerichten bereits im Factsheet: https://www.familienrecht-in-deutschland.de/studie/

Zu Väterrechtlern und ihren Argumentationen und Strategien: https://correctiv.org/aktuelles/haeusliche-gewalt/2023/09/19/die-netzwerke-der-vaeterrechtler/

Anlaufstellen bei geschlechtsspezifischer Gewalt:
Hilfe in Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg
Von häuslicher Gewalt Betroffene sowie ihre Unterstützungspersonen können sich an die lokalen Fachberatungsstellen zu häuslicher und sexualisierter Gewalt wenden.
Die Anlaufstellen bei Gewalt gegen Frauen und Kinder in Darmstadt und Landkreis Darmstadt-Dieburg sind hier aufgeführt: www.darmstadt.de/hilfe

Das Hilfetelefon – Beratung und Hilfe für Frauen 
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 116 016 und via Online-Beratung werden Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung unterstützt – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr, in 18 Sprachen, auf Wunsch auch anonym. Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte werden anonym und kostenfrei beraten. www.hilfetelefon.de

Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:
Clara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.
Lisa Freieck, Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt
Franziska Wallenta, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen
Dr. Christiane Wessels, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, FB Erwachsenenbildung und Familienbildung


[1] Eine möglicherweise positive Veränderung deutet sich in einem aktuellen Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums an, hier heißt es u.a.: „Bei Partnerschaftsgewalt soll ein gemeinsames Sorgerecht regelmäßig ausscheiden. Es soll klargestellt werden, dass das Familiengericht den Umgang beschränken oder ausschließen kann, wenn dies erforderlich ist, um eine konkrete Gefährdung des betreuenden Elternteils durch einen gewalttägigen Ex-Partner abzuwenden.“

[2] Bei Eheschließungen, in denen nur eine Person die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, besteht für die nicht-deutsche Partei erst nach drei Jahren Ehe und Zusammenleben Anspruch auf einen eigenständigen Aufenthaltstitel. Zwar besteht die Möglichkeit von Härtefallanträgen bei häuslicher Gewalt, deren Ausgang ist jedoch stets ungewiss. Dies führt, verstärkt durch Sprachbarrieren und finanzieller Abhängigkeit, oft dazu, dass Betroffene unter solchen Umständen in einer gewaltvollen Ehe bleiben.

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