Backlash – neue Gewalt gegen Frauen

Gibt es eine neue Gewalt gegen Frauen? Diese Frage beantwortet die Journalistin und Buchautorin Susanne Kaiser auf einer Online Veranstaltung am 22.2.2024 ganz klar mit JA.

Mehr als 100 Teilnehmer*innen hatten sich eingefunden zu der vom Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN, der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen (eaf hessen), dem Verband der Ev. Frauen in Hessen und Nassau und dem Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt organisierten Veranstaltung. Die Teilnehmer*innen deckten das weite Spektrum der Institutionen ab, die mit der Thematik Gewalt gegen Frauen befasst sind: Frauenhäuser, Frauen- und Gleichstellungsbüros, Beratungsstellen, Mitarbeitende in der Familienbildung, frauenpolitische Initiativen und die Polizei.

Mit ihrer Veröffentlichung Backlash legt Susanne Kaiser eine sehr klare Analyse der Gewalt gegen Frauen vor. Um das Neue dieser Gewalt gegen Frauen zu verstehen, blickt Susanne Kaiser auf Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter insgesamt. Was sie wahrnimmt, beschreibt sie als eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite gibt es Erfolge von Frauen in Beruf und Politik und mehr Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit. Aber gleichzeitig gibt es wachsenden Hass und Gewalt gegen Frauen. Junge Frauen und Männer driften in ihren politischen Überzeugungen immer mehr auseinander, das zeigen weltweite Studien. Tendenziell wenden sich jungen Männer eher nach rechts, junge Frauen hingegen sind deutlich liberaler. Eine Soziologische Studie der Financial Times zeigt, dass die sogenannte Generation Z in ihren politischen Einstellungen zwischen den Geschlechtern sehr weit auseinander geht. Natürlich sind Generationen keine homogenen Blöcke, aber gerade in der Generation Z ist die Diskrepanz noch mal größer zwischen den Geschlechtern als in anderen Altersgruppen (dazu auch ein Kommentar von Antje Schrupp).

Patriarchale Gewalt als Reaktion auf den Machtverlust

Verändert haben sich die Gruppe der Betroffenen und die Formen von Gewalt. Höhere Bildungsabschlüsse, ökonomische und politische Erfolge schützen entgegen der landläufigen Meinung nicht vor Gewalt: Es sind gerade erfolgreiche Frauen, die besonders von Gewalt betroffen sind. Beispiele sind Annalena Baerbock, Ricarda Lang oder auch Dunja Hayali[1], die Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt sind, auch Claudia Neumann, die als Fußballkommentatorin eine „Männerdomäne“ besetzt.

Hier spielt die Frage des angenommenen Machtverlusts eine wichtige Rolle: „Wenn du privilegiert bist, dann fühlt sich Gleichberechtigung wie Unterdrückung an“ sagt die Autorin. Gewalt ist eine Reaktion auf den Machtverlust, den Männer allein durch den Diskurs um Gleichberechtigung und die Norm erleben. Durch das Internet haben Frauen und Minderheiten mehr Sichtbarkeit und ein Sprachrohr bekommen, was die Machtrolle und den Status von Männern bedroht. Im Bereich von Macht und Status stellt Gleichberechtigung für Männer tatsächlich einen Machtverlust dar, oder ist ein Nullsummenspiel, auch wenn sie in anderen Bereichen durchaus von Gleichberechtigung profitieren. Es sei, so Kaiser „das Problem mit der Norm, die nicht mehr so selbstverständlich männlich, weiß, cis, hetero ist, durch die Erosion entsteht ein Vakuum. Und das wird mit Gewalt gefüllt. Denn Diversität und Vielfalt kann per Definition keine Norm sein.“

„Das Internet ist ein Gamechanger, der die Sphären, in denen Gewalt stattfindet, miteinander koppelt“

Wie sich einige Männer in der Politik gegenüber Frauen verhalten oder wie Beziehungen zwischen den Geschlechtern im Netz dargestellt werden, all das hat einen starken Effekt auf den privaten Bereich. Die Ausübung von Gewalt, insbesondere körperliche Gewalt, wird zunehmend banalisiert, normalisiert und fließt ein in den Alltag und wirkt prägend vor allem bei Jugendlichen.

Radikales Gedankengut, zu dem Susanne Kaiser früher noch im Darknet und speziellen Incel[2]-Foren recherchiert hat, ist inzwischen in den Mainstream übergeschwappt. Radikalere Vorstellungen werden denkbarer, sagbarer und salonfähiger. In verschwörungsideologischen Zeiten ist Feminismus eine Projektionsfläche geworden für eine Verschwörung gegen die Gesellschaft. Der Feminismus verweichliche unsere Gesellschaft, trage bei zum sogenannten großen Austausch und letztlich dem Untergang der weißen Mehrheitsgesellschaft – so die Behauptung.

Drei Ziele neuer Gewalt gegen Frauen macht Susanne Kaiser aus: Kontrolle über Frauen aufrechterhalten oder zurückerlangen, Frauen auf ihren Körper reduzieren und Frauen verdrängen.

Für das Verdrängen aus dem öffentlichen Raum nennt Susanne Kaiser zwei sehr prägnante Beispiele: Das Frauenhaus ist ein wichtiger Schutzort für Frauen. Gleichzeitig ist es ein Fluchtort, der auf keinen Fall bekannt werden darf, um die Sicherheit nicht zu gefährden. Dadurch werden die Frauen anonymisiert und aus ihrem gewohnten Umfeld verdrängt, sie tragen die Konsequenzen, nicht der Täter. Oft bleibt damit auch die Gewalt, die sie erfahren haben, nicht sichtbar, so Susanne Kaiser.

Verdrängt werden Frauen auch im Netz. Um sich vor Hass und Hetze im Netz zu schützen, ziehen sie sich ganz zurück (vgl. Studie „Lauter Hass – leiser Rückzug“) oder beschränken sich auf das Segment, welches mit patriarchalen Geschlechterstereotypen konform ist und internet-aktiven Frauen zugewiesen wird: der Beauty- und Wellness-Bereich. Wieder einmal werden Frauen auf ihren Körper reduziert.

Die Kontrolle über den Körper der Frau wird nicht zuletzt auch über die Einschränkung der reproduktiven Selbstbestimmung ausgeübt. Aktuell zeigt sich dies in den USA, wo das von der Verfassung garantierte Abtreibungsrecht rückgängig gemacht wird. Reproduktion und Schwangerschaftsabbruch sind ein Thema in rechten Kreisen, mit der Zielsetzung über Biologismus, und die Betonung angeblich „natürlicher“ Aufgaben und Kompetenzen einen gesellschaftlichen Rollback zu erreichen.

Gewalt gegen Frauen als ein Angriff auf die Demokratie

Was ist zu tun, um diese Dynamik, diesen Backlash zu durchbrechen? Kaiser geht davon aus, dass wir noch viel mehr gute Analysen zum Thema Geschlechterverhältnisse und Geschlechterdifferenzen brauchen, um zu verstehen, was passiert und warum es passiert. Als Strategie empfiehlt sie, zunächst verschiedene Geschlechtsidentitäten sichtbar zu machen und zu empowern, um dann – so ihre These – die Kategorien überflüssig zu machen. Zu dieser Strategie gehören auch Geschlechterquoten als radikales Mittel der Gleichberechtigung.

Das Internet sieht sie als bedeutenden Ort für den Backlash. Daher ist die Demokratisierung des Internets einer der wichtigsten Ansatzpunkte für Veränderungen. Die Regeln des Internets seien zutiefst undemokratisch und würden von fünf reichen Männern aus dem Silicon Valley gemacht. Ihre Forderung lautet daher, „es braucht Regulierung und Regeln!“

Es braucht mehr Schulung und Sensibilisierung von Richter*innen, Polizist*innen und eine bessere finanzielle Absicherung der Frauenhäuser und der Beratungsstellen.

Gewalt muss faktisch gestoppt und geahndet werden. Die Täter müssen beschämt werden, nicht die Frauen. Männer müssen stärker in den Fokus kommen und einbezogen werden durch vermehrte Therapieangebote.

Susanne Kaiser schließt mit einem eindringlichen Appell: Gewalt gegen Frauen sollte nicht als „Familien“problem behandelt werden, sondern als Problem der inneren Sicherheit. Antifeminismus ist vor allen Dingen eine Gefahr für unsere Demokratie, geschlechtsspezifische Gewalt erschwert die demokratische, politische und ökonomische Teilhabe der betroffenen Frauen und beeinträchtigt so auch die Qualität unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.

In ihrem Resümee sind sich Referentin und Veranstalterinnen einig: Wenn wir weiterarbeiten wollen an der Stärkung der Demokratie, dann ist die Überwindung der Gewalt gegen Frauen ein unverzichtbarer Beitrag dazu. Alle Menschen haben ein Recht darauf, keine Angst vor Gewalt haben zu müssen, sondern frei und selbstbestimmt in Sicherheit leben zu können.

Anlaufstellen bei geschlechtsspezifischer Gewalt:

Hilfe in Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg
Von häuslicher Gewalt Betroffene sowie ihre Unterstützungspersonen können sich an die lokalen Fachberatungsstellen zu häuslicher und sexualisierter Gewalt wenden.
Die Anlaufstellen bei Gewalt gegen Frauen und Kinder in Darmstadt und Landkreis Darmstadt-Dieburg sind hier aufgeführt: www.darmstadt.de/hilfe

Das Hilfetelefon – Beratung und Hilfe für Frauen
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 116 016 und via Online-Beratung werden Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung unterstützt – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr, in 18 Sprachen, auf Wunsch auch anonym. Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte werden anonym und kostenfrei beraten. www.hilfetelefon.de

Weitere Veranstaltungen im Rahme der Online-Reihe „Die (neue) Gewalt gegen Frauen“:
21.03.2024, 18:00-19:30 – Dr. Nivedita Prasad (Professorin für Soziale Arbeit): Die Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt
16.04.2024, 19:30-21:00 – Asha Hedayati (Anwältin, Publizistin): Die stille Gewalt gegen Frauen


Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:
Clara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.
Madalina Draghici, Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt
Franziska Wallenta, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen
Dr. Christiane Wessels, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, FB Erwachsenenbildung und Familienbildung

Foto Susanne Kaiser: Jonas Ruhs


[1] Bei Dunja Hayali als queere Frau mit Migrationsgeschichte kommen weitere Diskriminierungsmerkmale hinzu.

[2] Incel: „Incels“ steht für „involuntary celibate men“, also für unfreiwillig im Zölibat lebende Männer. Es ist die Selbstbezeichnung einer in den USA entstandenen Internet-Subkultur heterosexueller Männer, die nach Eigenaussage unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr bzw. keine romantische Beziehung haben und der Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit anhängen. Von Incels ausgedrückte Überzeugungen und Gefühle sind geprägt von Misogynie (Frauenfeindlichkeit), dem Anspruch, ein Recht auf Sex zu haben, Selbstmitleid und in Teilen der Billigung und Anwendung von Gewalt gegen Frauen und gegen sexuell aktive Männer. [Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Incel, Stand, 1.3.2024]

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