Ein Plädoyer für den Raum des Zwischenmenschlichen in der Bildung von Elke Heldmann-Kiese.
Was ist der besondere Lerngewinn in einer Lerngruppe, wenn wir uns von Mensch zu Mensch real in einem Raum begegnen und im lebendigen Miteinander den Prozess des Lernens gestalten? Diese Frage stelle ich mir als Referentin in der Erwachsenenbildung, die kommunikative Bildungsräume eröffnet, sie als Veranstalterin begleitet und selbst eifrig mitlernt. Was können wir lernen im Erleben und Erfahren des Miteinanders, im Dialog und Austausch mit anderen – worin können wir uns üben, wenn wir dem Zwischenmenschlichen in der Bildung Raum und Zeit geben? Ich habe mich einmal auf die Suche nach möglichen Antworten gemacht.
Glück des kooperativen Zusammenspiels
Der Mensch ist für gelingende Beziehungen und Kooperation konstruiert, behauptet Joachim Bauer in seinem Buch „Prinzip Menschlichkeit“. „Wir sind aus neurobiologischer Sicht auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen“ (Bauer, S. 36). Anerkennung und Zuwendung, Vertrauen und Wertschätzung sind die „Treibstoffe“ für die menschlichen Motivationssysteme und erhöhen somit auch die Lernmotivation. Wo Vertrauen entsteht, entspannt sich das kooperative Spiel des Miteinanderlernens. Damit Vertrauen entstehen und wachsen kann, brauchen wir neben Raum und Zeit eine dafür angemessene Gruppengröße. Je besser sich alle Beteiligten gesehen und individuell wahrgenommen fühlen, desto leichter fällt es ihnen, sich zu öffnen und sich authentisch zu begegnen. Gleichzeitig braucht es Regeln, die dem Zusammenspiel einerseits Struktur und Halt geben und andererseits genügend Freiraum lassen, für das was sich im Prozess des Miteinanders entwickeln und zwischen den Menschen zeigen kann. Joachim Bauer hat fünf Beziehungselemente ausgemacht die für das Gelingen von Kooperation entscheidend sind.
1. Menschen wollen gesehen werden und dazu braucht es die Bereitschaft die anderen wahrzunehmen und sich selbst zu erkennen zu geben.
2. Die gemeinsame Aufmerksamkeit gegenüber etwas Drittem, gegenüber dem, wofür wir uns selbst und die anderen interessieren, schafft Verbindung.
3. Die emotionale Fähigkeit uns zu einem gewissen Grad aufeinander einzuschwingen und einzustimmen und
4. Etwas konkret miteinander zu machen, wirkt in hohem Maße beziehungsstiftend.
5. Das gegenseitige Verstehen und sich Verständlich machen erfordert vor allem das Gespräch als „Königsdisziplin“.
So betrachtet trainiert das „Miteinanderlernen“ auch die Beziehungskompetenzen, also die Fähigkeit jedes Einzelnen, den Raum des Zwischenmenschlichen verantwortlich mit zu gestalten (Vgl. Bauer, S. 192 – 195).Ein kooperatives Zusammenspiel braucht keinen Alleinunterhalter, es braucht Mitspieler, Menschen, die sich selbst ins Spiel bringen und sich in der Begegnung mit anderen immer wieder neu aufs Spiel setzen (Vgl. Hüther/Quarch, S. 176). Ein Zusammenspiel ist stets auch ein Wagnis und es gelingt nicht immer zur aller Zufriedenheit. Es bereichert jedoch jeden, der die Selbsterfahrung zu schätzen und für sich zu nutzen weiß. Ein Zusammenspiel das im Kern gemeinschaftsstiftend ist, fördert beides, den Eigensinn und den Gemeinsinn. In einem wirklichen Zusammenspiel können wir uns autonom und doch aufeinander bezogen, frei und zugleich verbunden fühlen. Wir können uns aufeinander einlassen, miteinander ins Spiel kommen, Ideen einbringen und aufnehmen. Es entfaltet sich ein Spiel des Nehmens und Gebens, des gemeinsamen Suchens und Findens, wo sich im Prozessverlauf das eine zum anderen fügt, bis am Ende ein passendes Gebilde zum Vorschein kommt. Das „Prinzip der Passung und des Zusammenspiels“ ist im Prinzip „Kooperation“ und „das Ergebnis gelingender Kooperation hieße: Menschlichkeit“ (Bauer, S. 223/225).
Kultur der „lebendigen Gegenseitigkeit“ (Martin Buber)
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Zwei markante und vielzitierte Sätze des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1878 – 1965), die sich auch auf das Lernen in Gruppen beziehen lassen. Leben und Lernen heißt „angeredet werden“ und sich „aus der Mitte des eigenen Wesens“ ansprechen lassen. Wer bin ich? Wer bist Du? Was geschieht mit uns und zwischen uns? Was nehmen wir wahr, was verstehen wir? Statt übereinander zu reden, reden wir miteinander. Wenn wir uns wahrhaftig begegnen, wenden wir uns mit unserer ganzen Person dem Du zu und nehmen das Du, unser Gegenüber, als Mensch in seiner Ganzheit und Einzigartigkeit wahr. Leben und Lernen heißt in Beziehung zu gehen, in Beziehung zum „Du“.Nach Buber findet wirkliche Begegnung dort statt, wo Menschen auf Effekte verzichten, sich vom „Scheinen-wollen“ lösen und vom Gedanken an die eigene Wirkung befreien können, wo sie es wagen, ihren Schutzpanzer abzulegen. Erst dann stelle sich ein „echter Dialog“ ein, in dem sich die Gesprächspartner*innen einander „in Wahrheit“ zuwenden und sich darum bemühen, möglichst authentisch zu sein. „Wo jeder der Teilnehmer den oder die anderen in ihrem Dasein und Sosein wirklich meint und sich ihnen in der Intention zuwendet, dass lebendige Gegenseitigkeit sich zwischen ihm und ihnen stifte“ (Hartkemeyer, S. 66), dort wird aus der Begegnung eine lebendige Beziehung, die Substanzielles und „fruchtbare Gemeinschaft“ hervorbringen kann. Und mehr noch: Erst durch die Beziehung gelangt der Mensch zu seinem Ich, am Du entwickelt er sich und bildet seine eigene Persönlichkeit heraus. Das Ich braucht das DU zur Selbstwerdung. Bubers Dialogprinzip ist somit auch ein Aufruf zu mehr Öffnung und Präsenz in der zwischenmenschlichen Begegnung, es geht darum, mit den Menschen, mit denen man zu tun hat, wirklich in Beziehung zu gehen und das heißt zunächst einmal, dass wir unsere Augen, Ohren und unsere Herzen füreinander öffnen. Dies lässt sich nicht einfach machen oder organisieren, wohl aber ermöglichen und befördern.
Die Kraft der „belebenden Resonanz“(Irmtraut Tarr)
„Resonanz ist persönlichkeitsbildend“ schreibt Irmtraut Tarr. Sie wirkt identitätsstiftend. Wir brauchen Begegnung und Kontakt, weil wir Antworten brauchen, die Auskunft über uns selbst geben. Die These, die sie in ihrem Buch „Resonanz als Kraftquelle“ aufstellt lautet, „dass wir zu dem werden, womit wir in Resonanz stehen“ (Tarr, S. 8). „Die Resonanz der anderen macht uns zu dem, was wir sind“ (Tarr, S. 110). Wir brauchen die Begegnung und den Dialog mit anderen, um die Perspektive zu wechseln und den Horizont zu erweitern und auch um etwas über uns selbst zu erfahren. „Wer wir sind, entdecken wir in der Begegnung“ (Tarr, S. 86), „unsere Selbstwahrnehmung wird beeinflusst davon, wie andere uns Resonanz geben“ (Tarr, S. 87). Resonanz ist somit eine „Quelle der Selbsterkenntnis“ (Tarr, S. 8). Begegnungen entstehen nicht „weil wir Worte wechseln, sondern weil wir Gefühle austauschen“, „weil wir einander Bedeutung schenken“ (Tarr, S. 38), „weil die Beteiligten sich füreinander öffnen und Einblicke in ihre Innenwelt gewähren“ (Tarr, S. 39)“. Weil wir uns aufeinander beziehen und einander zuwenden entsteht Beziehung und Resonanz. Wir sind „Angesprochene, Antwortgeber –wider klingende Subjekte. Wir sind Resonanzkörper füreinander“ (Tarr, S. 66).Resonanz bringt etwas in uns zum Schwingen und zum Klingen, bringt uns in Verbindung, auch wenn wir zusammen schweigen. „Solch feinspürige Resonanz bildet sich nicht im Kopf, sondern im Miteinander von Erleben und Teilen“ (Tarr, S. 111), eben in der „Dynamik der menschlichen Begegnung“. Der Soziologe und Buchautor Hartmut Rosa schreibt von „offenen, vibrierenden und atmenden Resonanzachsen“ zwischen „Selbst und Welt“, die es braucht, damit Leben gelingt. „Ohne Liebe, Achtung und Wertschätzung bleibt der Draht zur Welt – bleiben die Resonanzachsen – starr und stumm“ (Rosa, 2013). Menschen brauchen Räume und „Resonanzsphären“, die nicht „entsinnlicht“ und „entleiblicht“ sind, sie brauchen Orte, an denen sie sich „berührt, ergriffen, verflüssigt und lebendig“ fühlen. Ein Bildungsseminar kann zu einem solchen Resonanzraum werden, der elastisch mitschwingt beim miteinander, voneinander und aneinander Lernen. Es kann die Teilnehmenden in Verbindung bringen, in einen „vibrierenden Kontakt“ mit sich selbst und ihrem Leben, mit den anderen und der Welt. Wir können den Raum nutzen, um einander Antwort und Resonanz zu geben; achtsam, wertschätzend, anerkennend und respektvoll.
Kunst der „dynamischen Balance“(Ruth C. Cohn)
Im Idealfall können wir das Lernen in der Gruppe als „schöpferisches Miteinander“ erleben, was nicht bedeutet, dass alle Prozesse harmonisch verlaufen. Jeder Gruppenprozess ist störanfällig, kann spannungsgeladen sein und Konflikte zum Vorschein bringen. Das Lernen und das Zusammenarbeiten in der Gruppe ist stets ein Balanceakt, phasenweise ist es eine enorme Kraftanstrengung für alle Beteiligten und dann wieder erscheint es uns wie ein leichtes Spiel aus demuns erstaunliche Kräfte zuwachsen. Es gilt die Gegenpole achtsam wahrzunehmen und in Balance zu bringen, ja mehr noch, es gilt die „Polaritäten, als produktive Spannungsfelder aufzufassen und als Entwicklungspotential zu nutzen (Spielmann, S. 145). Nach dem Konzept der Themenzentrierten Interaktion (TZI) von Ruth C. Cohn wird der Gruppenprozess durch vier Faktoren bestimmt: durch die einzelnen Personen (Ich), die Gruppeninteraktionen (Wir), die Aufgabe (Es) oder der Grund warum wir zusammen gekommen sindund den Gegebenheiten im näheren und weiteren Umfeld (Globe). Nach Cohn sind alle vier Faktoren „gleichgewichtige Momente“, die es im Gruppenverlauf zu balancieren gilt. Dynamisches Balancieren ist ein wesentliches Element in der TZI und betont die Spannung und die Beweglichkeit, und damit die Lebendigkeit und Ganzheitlichkeit des Lernens. Zu balancieren heißt, immer wieder das Gleichgewicht zu verlieren und wiederzufinden, heißt die Kehrseite in den Blick zu nehmen und die Gegenpole miteinzubeziehen: Fühlen und Denken, Nähe und Distanz, „Geben und Empfangen, Hören und Sprechen, Aktivität und Ruhe etc.“ (Cohn, S. 161). Die Kunst besteht darin, all diese Aspekte durch einen kontinuierlichen Perspektivwechsel immer wieder neu zu gewichten und auszuloten. Gelingt der Wechsel „beschwingt“ er die Interaktion und wird zu einer „treibenden Kraft für die Lebendigkeit“ der Gruppe und des Miteinander Lernens (Schneider-Landolf u.a., S.142). „Als „Hüter*in der dynamischen Balance“ kommt der Leitung hier eine besondere Verantwortung und Umsicht zu, zugleich sind auch die Lernenden in ihrer Selbstleitung und Eigenverantwortung gefragt und in ihrer Kompetenz sich selbst zu balancieren.
Potenzial der „dialogischen Haltung“
Wir kommunizieren auf allen Ebenen, wir unterhalten uns, wir reden viel, doch kommen wir auch zu einer wirklichen Verständigung zu einem gemeinsamen Verständnis? Sind der Wille und die Bereitschaft da, voneinander etwas zu erfahren und zu lernen oder wollen wir den anderen die Welt erklären und sie von unserem Weltbild überzeugen? Der Quantenphysiker David Bohm (1917 – 1992) unterscheidet zwischen Gesprächen, „in denen lediglich Gedachtes ausgetauscht wird (…) und Dialogen, in denen tatsächlich neues Denken entstehen kann“ (Hartkemeyer, S. 55). „Es geht beim Dialog nicht darum, sich durchzusetzen, ‚Punkte zu machen‘, rhetorisch zu brillieren und mit der eigenen Meinung zu ‚gewinnen‘, sondern um einen Gewinn für alle Beteiligten durch neue Einsichten und Erkenntnisse in einem kreativen Feld“ (1.). Es geht darum kreative Denkräume zu eröffnen. „Im Dialog überzeugen Menschen einander nicht, im Dialog teilen sie ihr Denken“ (2.). Es geht um Austausch und nicht um Überredung oder Belehrung. Dialog ist eine Haltung, die Wert legt auf achtsames Zuhören und gemeinsames Denken, um „neuen Sinn miteinander zu schaffen“. „Statt ‚Denkprodukten‘, tauschen wir unsere Denkwege aus“ (3.). Die dialogische Grundhaltung kann in Bildungsseminaren exemplarisch erfahren werden. In ihrem Buch „Dialogische Intelligenz“ empfehlen die Autor*innen zehn grundlegende Kernfähigkeiten für den Dialog (Hartkemeyer, S. 148, 149), die ersten drei lauten: „eine lernende Haltung einnehmen“(gemeinsam entdecken und herausfinden – statt mit Wissen zu belehren und mit Expertentum beeindrucken zu wollen), “radikalen Respekt zeigen“ (sich um ein tieferes Verständnis für den anderen bemühen – statt den anderen nicht ernst zu nehmen und in seinem Sosein nicht zu akzeptieren), „von Herzen sprechen“ (von dem reden, was uns wichtig ist, was uns bewegt – statt unpersönlich und abstrakt zu bleiben und nichts von sich preiszugeben). „Der Dialog lebt von gegenseitigem Respekt, schöpferischem Zuhören und Sich-authentisch-mitteilen-Können“ (Marek/Schopp S. 70). „Er lässt Raum und Zeit für menschliches Sein, für Unvollkommenheit, für Fort- und auch Rückschritte, für Langsamkeit und Anderssein, Eigensinn und Selbstforschung“ (Marek/ Schopp S.67). Er ist ein Ort „der Begegnung und des Austauschs ohne Machtanspruch“ (s.o. S. 67) und im Sinne von Hartkemeyer das „Kernelement einer neuen Lernkultur“. Eine Lernkultur, die sich um gegenseitiges Verstehen bemüht und damit das friedliche Zusammenleben fördert.