Warum wir wissen wollen, wer wir sind und doch nie ganz schlau aus uns werden.

Gedanken zur Persönlichkeitsbildung von Elke Heldmann-Kiesel.

Menschen sind Wesen, die wissen wollen, wer sie sind und zugleich bleiben sie sich ein Leben lang ein Rätsel. Wir müssen uns zuerst selbst verstehen, um uns anderen verständlich machen zu können. Wir sollten wissen, woran wir mit uns sind, damit wir uns auf uns selbst verlassen können im Leben. Von Kind an streben wir nach Selbsterkenntnis, doch so einfach ist das nicht, zumal sich das Selbst im Laufe des Lebens immer weiter entwickelt und sich in Ermangelung einer stabilen und dauerhaften Beschaffenheit nicht so recht fassen lassen will.

Von Zeit zu Zeit, häufig an Wendepunkten im Leben, unterziehen wir unser Selbst einer kritischen Überprüfung und fragen uns, ob wir noch eins sind mit unserem Selbst. Möglicherweise haben wir uns immer mehr von unserem wahrhaftigen Selbst entfremdet, sehnen uns nach dem echten und authentischen. Ein guter Grund, sich dem eigenen Selbst zu zuwenden und der Person auf die Spur zu kommen, die wir im Kern sind, ist der Wunsch, ein mit sich selbst stimmiges Leben zu führen.

Persönlichkeitsbildung ist ein Prozess der Annäherung an unser Selbst, ein Weg hin zu einer umfassenderen und erweiterten Selbstwahrnehmung. Es ist ein Prozess des Klarwerdens und Bewusstwerdens über uns selbst und über das, was wir im Leben für wesentlich und wertvoll halten, was uns persönlich wichtig ist. Selbstkenntnis und Erkenntnis über uns selbst, ist ein zentraler Bestandteil von Persönlichkeitsbildung, ein Bildungsprojekt das Zeit braucht und auf Dauer angelegt ist. Nur mal kurz die Persönlichkeit entwickeln funktioniert nicht, „Selbsterkenntnis light“ richtet nicht viel aus. Ohne Selbstkenntnis müssten wir einem unbewussten Programm folgen, statt das Leben in die Hand zu nehmen und bewusst zu gestalten. Andererseits können wir uns zeitlebens noch so bemühen, unsere Selbsterkenntnis wird immer nur Stückwerk bleiben, denn „unser inneres Leben ist tendenziell auch für uns selbst nicht vollständig durchschaubar“ (Michael Bordt, S. 25).

Kompetenz und Persönlichkeit
In der Arbeit mit Menschen, auch gerade in der Erziehungs- und Bildungsarbeit, ist die Persönlichkeit eine wichtige Kompetenz und Ressource, die wir einbringen. Wir sind auch in der professionellen Rolle zuallererst Person und haben in zweiter Linie eine Funktion inne, dies lehrt uns die Themenzentrierte Interkation (TZI) von Ruth C. Cohn über die Leitung von Gruppen. „Die Persönlichkeit ist das wirksamste Instrument der Leitung“ (Irene Klein, S. 69), deshalb brauchen Leitungspersonen nicht nur methodisches Geschick sondern vor allem „Wahrnehmungsfähigkeit und Bewusstheit und Achtsamkeit sich selbst und anderen gegenüber“ (Klein, S. 82). Wenn wir Teams oder Gruppen leiten, Menschen in ihrer Entwicklung fördern und stärken, Lernprozesse gestalten und begleiten, leiten wir durch unsere Person und mit unserer inneren Haltung. Zugleich sollten wir uns selbst leiten und dafür Sorge tragen, dass uns dies gut gelingen kann. Es lohnt sich daher, der Person, die wir selbst sind, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dies macht erforderlich, sie näher kennen zu lernen und uns mit ihrem inneren Erleben vertraut zu machen. Wir kommen also nicht umhin, uns achtsam selbst wahrzunehmen um eine größere Bewusstheit zu erlangen über das, was in uns selbst vorgeht. Um Bildungsprozesse authentisch zu gestalten, braucht es Menschen, die sich ihrer inneren Gegebenheiten, ihrer persönlichen Beteiligung, manchmal auch emotionalen Verwicklung bewusst werden und dafür einstehen. Es braucht Menschen, die sich menschlich zeigen, und Verantwortung für ihr Fühlen und Denken übernehmen.

Die Bildung der eigenen Persönlichkeit ist eine ständige Lernpraxis, an der wir maßgeblich selbst beteiligt sind, mit allem was uns ausmacht. Persönlichkeitsentwicklung gibt es nicht ohne uns. Persönlichkeit ist eine unverfügbare Ressource. Wir selbst entscheiden, wie wir uns persönlich weiter entwickeln wollen, wir müssen uns von niemandem die Richtung vorschreiben lassen. Jede einzelne Person entscheidet selbst, wohin die Entdeckungsreise gehen soll.

Der Weg zur Selbsterkenntnis ist letztlich ein Weg in die innere Freiheit. Statt in Mutlosigkeit und Enge zu verharren, macht er den Blick frei auf die Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, trotz aller Einschränkungen und schwierigen Phasen. Wir können uns entwickeln und verändern und wir haben dazu mehr Spielraum als wir denken. Bis ins hohe Alter können wir aus Erfahrungen lernen, die uns wachsen lassen; Potenziale entdecken, die wir noch entfalten wollen. Persönlichkeitsbildung ist ein Prozess, den jede und jeder für sich selbst und aus sich selbst heraus vorantreiben kann. Allerdings liegt nicht alles in unserer Macht, wir sind abhängig, wir sind angewiesen auf andere, unserer Selbstentfaltung sind innere und äußere Grenzen gesetzt. Die objektiven Lebenslagen dürfen nicht ausgeblendet werden und zugleich kommt es auf die Perspektive an, die wir einnehmen. Das Leben macht uns Vorgaben, doch wir müssen uns nicht als Opfer der Verhältnisse definieren. Wir können uns in Verantwortung für uns selbst darum bemühen, den Raum der Freiheit auszuweiten und falls erforderlich zurück zu erobern.

Ressourcenaktivierung statt Selbstoptimierung
Sowohl im Zeitschriften- und Büchersektor als auch auf dem Coaching- und Seminarmarkt boomen die Themen rund um das Selbst. Es scheint ein Bedürfnis oder auch eine Sehnsucht nach Selbstfindung und Selbstverwirklichung zu geben. Titel wie „Erfolgsfaktor Persönlichkeit“ oder „Mit Persönlichkeit punkten“ verweisen außerdem darauf, dass sich mit der „persönlichen Performance“ Geld verdienen lässt. Persönlichkeit ist gestaltbar und sie ist optimierungsfähig, das macht sie interessant für den kommerzialisierten Persönlichkeits-Fitnessmarkt, der für Erfolg, Effizienz und Wettbewerb trainiert. Damit sind vorrangig die ökonomisch verwertbaren Kompetenzen im Fokus und die Vereinnahmung und Instrumentalisierung beginnt. Das persönliche Potenzial wird genutzt, um es „besser in Szene zu setzen“, um die Leistung „besser zu verkaufen“, um „mehr Wirkung zu erzielen“. So wird subtil Druck erzeugt, alles aus sich selbst herauszuholen und mehr aus sich zu machen, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Doch wenn wir uns diesem Druck beugen, schwächen wir uns am Ende selbst. Evangelische Erwachsenenbildung orientiert sich mit ihrem Angebot der Persönlichkeitsbildung nicht an den Erfordernissen des Marktes. Sie stellt den Respekt vor dem Eigensein in den Mittelpunkt. Mit einem ressourcenorientierten Ansatz geben wir den lebendigen und starken Seiten den Vorrang. Das Lebendige und Schöpferische in uns Menschen, das nach Entwicklung, Entfaltung und Ausdruck strebt, soll Raum bekommen, soll sich zeigen können. Es geht um die angeborene persönliche Würde, die zur Geltung gebracht werden soll, der göttliche Funke, das innere Licht, das leuchten will.

Auch viele Psychologen und Persönlichkeitsforscher betrachten die Selbstoptimierung mittlerweile kritisch, raten stattdessen zur Selbstannahme und Selbstakzeptanz und zu mehr Gelassenheit im Umgang mit den eigenen Unzulänglichkeiten. Jens Asendorpf, langjähriger Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Humboldt-Universität und in der Forschung am Max-Planck-Institut tätig, sieht in den fortwährenden Optimierungsbemühungen sogar „eine Kraft- und Ressourcenverschwendung“. Er rät dazu, „sich mit dem eigenen Ich anzufreunden und nicht dauernd daran zu feilen“ und empfiehlt stattdessen „eine Reise ins Reich der eigenen Potenziale“ (Geo kompakt Nr. 50, S.143).

Der Philosoph und Autor Wilhelm Schmid ist ebenfalls von der Selbstfreundschaft überzeugt, diese ermögliche, besser mit sich umzugehen und umgänglicher für andere zu werden. Die Person, die mit sich selbst befreundet ist, strebt keine Selbstperfektionierung an, sie will das bestmögliche in sich fördern um aus ihrem Leben etwas zu machen, woran sie sich selbst und womit sie andere erfreut. Sie pflegt eine freundliche und wohlwollende Beziehung zu sich selbst, die nicht beim Selbst stehen bleibt, „sondern vom Ich zum Wir kommt“ also zur „Zuwendung zu Anderen“, zum Interesse an den Menschen und nicht nur für sich selbst (Wilhelm Schmid, vgl. S. 11- 25).

Selbsterkenntnis braucht Selbstwahrnehmung
Wir brauchen eine Vorstellung davon, wer wir sind, schreibt Peter Bieri, Philosoph und Schriftsteller. Um handeln zu können, müssen wir zunächst einmal verstehen, was wir wollen und damit machen wir uns „auf die Suche nach Selbsterkenntnis in einem empathischen Sinne“ (Peter Bieri, S. 36). Wir blicken dabei von außen nach innen und von innen nach außen, wir gehen in Kontakt und auf Distanz zu uns selbst und wir befragen uns „im Rückblick und im Werden“ (Zitat von Verena Kast). Bin ich die, die ich sein will oder die, die andere so haben wollen. Bin ich ein Rädchen im Getriebe, das immer funktionieren soll oder will ich „dem Rad in die Speichen fallen“ (Zitat von Dietrich Bonhoeffer)? Bin ich in meinem Element oder habe ich es mir in meiner Komfortzone gemütlich gemacht? Wer bin ich, wenn ich alleine bin und wer, mit anderen zusammen? Welche Rolle ist mit mir identisch und in welcher bin ich mir selbst fremd? Mit einer solchen Selbstbefragung machen wir uns selbst und unser Leben zum Thema, setzen uns mit unseren biografischen Erfahrungen auseinander, die in unser tägliches Verhalten und in unser Leitungshandeln hineinwirken.

„Selbstbestimmt ist unser Leben, wenn es uns gelingt, es innen und außen in Einklang mit unserem Selbstbild zu leben“ (Peter Bieri, S. 13). Erst mit einem selbstbestimmten Lebensentwurf, der in einem stimmigen Zusammenhang mit unserer Biografie und unseren Prägungen steht, erobern wir uns ein Selbst, das souverän und frei von Bevormundung sein Leben führt. Selbsterkenntnis bedeutet, die eigene Stimme zu finden, die uns zur inneren Stellungnahme befähigt und die uns aus der Enge biografischer Prägungen heraustreten lässt. Auf diese Weise können wir lernen, ein Leben zu führen, das uns nicht einfach nur zustößt, es ist ein Leben, indem wir uns darüber klar werden, wer wir sein möchten und wie wir leben wollen (vgl. Peter Bieri). Dann erst ist es unser Leben und nicht „das Leben, das andere von uns erwarten“ (Michael Bordt, S.9).

Im Blick der Anderen erkennen wir uns selbst
Persönlichkeitsbildung als Angebot der Evangelischen Erwachsenenbildung bietet Raum für Kommunikation und Begegnung mit Gelegenheit zum Kennenlernen und zur tieferen Begegnung mit uns selbst. Wir erleben uns selbst im Umgang mit anderen und erfahren etwas über uns im Prozess des Miteinanders. Vieles zur Selbsterkenntnis können wir auch aus Büchern lernen, doch im lebendigen Austausch kommt die konkrete Erfahrungsebene hinzu. Neben der Einübung in der Kunst der Selbstwahrnehmung ist der Blick der Anderen als „Resonanzboden“ wichtig. Was andere sehen, können wir oft selbst nicht sehen, das macht den Blick so wertvoll. Indem wir mit anderen in Resonanz gehen, finden wir heraus, wer wir sind. In gegenseitigem Respekt und Wertschätzung schenken wir einander Beachtung, lernen uns dabei selbst kennen, weil andere uns ihre Sichtweisen und Perspektiven zur Verfügung stellen.

Andere Menschen helfen uns mit ihrem Blick unser Selbstbild zu überprüfen. Vielleicht nehmen sie Stärken und Potentiale wahr, die wir noch gar nicht an uns kennen. Ressourcen, die für uns selbstverständlich erscheinen, jedoch von anderen als wertvoll und besonders erlebt werden, bekommen so eine neue Bedeutung für uns. Manchmal werden wir auch mit Facetten unserer Persönlichkeit konfrontiert, die wir nicht so gerne mögen, mit unseren ungeliebten Seiten, die es noch zu integrieren gilt. Wir brauchen diesen „Blick der Anderen“ als „Korrekturinstanz“ (Bieri, S.41), weil wir uns irren und falschen Bildern aufsitzen können. In der Unterscheidung zwischen Ich und Du und in den Gemeinsamkeiten, in der Abgrenzung und in der Verbindung zu den anderen bekommt unser Selbst mit der Zeit immer mehr Kontur.

Diesen Prozess der Arbeit an der eigenen Identität kann jede und jeder nur für sich gestalten, doch wir können uns dabei hilfreiche Weggefährt*innen sein und uns gegenseitig unterstützen und stärken. In unseren Fortbildungen und Trainings rund um die Persönlichkeitsbildung wollen wir als Evangelische Erwachsenenbildung zum eigenen Selbst ermutigen, die inneren Ressourcen aktivieren und die persönlichen Begabungen freilegen. Indem wir uns selbst bewusst und beherzt zum „Eigenstand“ ermächtigen, können wir die Welt mit unserer Persönlichkeit bereichern. Wie heißt es bei Oskar Wilde: „Sei du selbst. Alle anderen sind schon vergeben.“

 

Quellen:

Jens Asendorpf zitiert aus: Katharina von Ruschkowski: Das optimierte Selbst, in: Geo kompakt Nr. 50, Wer bin ich? Hamburg 2017

Peter Bieri: Wie wollen wir leben? – dtv-TB, München, 4. Auflage 2014

Dietrich Bonhoeffer: Dem Rad in die Speichen fallen – Die Lebensgeschichte des Dietrich Bonhoeffer, Gütersloh, 2. Auflage 2013

Michael Bordt SJ: Die Kunst sich selbst auszuhalten, Ein Weg zur inneren Freiheit, 5. Auflage 2014

Verena Kast: Immer wieder mit sich selber eins werden – Identität und Selbstwert entwickeln in einer komplexen Welt, 1. Auflage 2018

Irene Klein: Gruppen leiten ohne Angst, Themenzentrierte Interaktion (TZI) zum Leiten von Gruppen und Teams, Donauwörth, 14. Auflage 2014

Wilhelm Schmid: Selbstfreundschaft. Wie das Leben leichter wird, Berlin, 1. Auflage 2018

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