Schreiben kann wie Beten sein, ein stilles Ritual, mit mir und mit Gott in Kontakt zu kommen, mich mit der Kraftquelle zu verbinden, die in mir sprudelt. Fernab vom Getöse der Welt höre ich beim Schreiben nach innen, achte auf die leisen Stimmen, dringe in tiefere Schichten meines Bewusstseins vor. Ich gehe in den Dialog mit mir selbst oder halte Zwiesprache mit der Natur, dem Schöpfer oder dem Universum. Schreibend finde ich Zugang zu meinen Ressourcen, ich komme meiner Freude auf die Spur, oder meinen inneren Antreibern auf die Schliche. Schreibend kann ich mich verbinden mit dem großen Ganzen, kann meine Wünsche und Bitten vorbringen, die andere Menschen miteinschließt.
Beim Schreiben verankere ich mich im Hier und Jetzt, nehme achtsam wahr, was ist, bin ganz da, präsent im Augenblick. Oder ich richte den Blick zurück, um mich für das Leben nach vorn zu stärken, schreibe was ich erinnern und mir vergegenwärtigen will und was ich mir für die Zukunft erhoffe und erträume.
Schreiben ist eine Wechselbewegung von innen nach außen und von außen nach innen. Während ich mit der Hand den Stift langsam über das Papier führe, gewinne ich Distanz zu den Dingen, die meinen Blick verengen oder meine Seele beschweren. Besonders in Krisenzeiten hilft mir das Schreiben. Indem ich mein Fühlen und Denken in Worte fasse, schaffe ich Ordnung und Struktur, sortiere und kläre und gewichte. Schreiben dient außerdem der Selbstvergewisserung, es hilft mir, herauszufinden, wer ich bin, was mir wichtig ist und wo ich hin will. „Wir sind immer wieder neu aufgefordert, genau hinzusehen, hinzuhören und hinzuspüren, nach außen wie nach innen, wachsam und achtsam zu sein für alles, was uns begegnet, uns immer wieder neu auszurichten, auch wenn das bedeutet, lieb gewonnene Ansichten und Konzepte loszulassen“ (Silke Heimes, Schreiben als Selbstcoaching, S. 18, 19).
Mein Leben bekommt beim Schreiben eine Form und eine Fassung, das was mich gerade beschäftigt und umtreibt wird sichtbar, zeigt sich seitenweise in meinem Notizbuch. Meine Wahrnehmungen, meine Empfindungen finden Ausdruck in Worten in und zwischen den Zeilen. Das Papier lädt mich ein, Spuren zu hinterlassen und meine Ideen zu entfalten. Schreiben ist eine Art Gedankenpflege und ein „Akt der Würdigung und Wertschätzung“ (Silke Heimes, S. 38). Schreiben bedeutet, „die Dinge beim Namen zu nennen, sich Zeit zu nehmen, innezuhalten, Gedanken, Gefühlen, Empfindungen und Ereignissen Raum zu geben, sie zu beobachten und zu erforschen, sich ihnen achtsam zu nähern“ (s. o. S. 38) „Die Würde des Menschen ernst zu nehmen, impliziert die radikale Akzeptanz der eigenen Person, anderer Menschen, der wechselnden Umstände und des gesamten Lebens, einschließlich seiner Fragilität und Vergänglichkeit“ (Silke Heimes, S, 32).
Das Schreiben von dem hier die Rede ist, hat viele Namen: freies Schreiben, lebendiges Schreiben, kreatives Schreiben, biografisches Schreiben, ressourcenaktivierendes Schreiben, um nur einige zu nennen. Allen gemeinsam ist der persönliche und authentische Selbstausdruck. Es geht um einen schöpferischen Schreibprozess, der bewertungsfrei und frei von Leistungserwartungen ist. Zudem fehlt die Ausrichtung auf ein Produkt oder ein Werk, ein literarischer oder journalistischer Anspruch steht nicht im Vordergrund. Ich schreibe mich selbst, ich schreibe mich in mein Leben. Ich versuche schreibend Antworten zu finden auf meine Fragen an mich und an Gott und die Welt.
„Ich bin dann mal ganz bei mir“ heißt ein Buch von Marina Gaenslen, als ich darin blättere stoße ich auf die Frage: „Wie viel Abstand ist gesund?“ – ein Schreibimpuls, der mich in diesen Zeiten besonders zum Nachdenken anregt. Wo führt Sie diese Frage hin? Vielleicht wollen Sie darüber schreiben, sich 15 Minuten Zeit dafür nehmen.
Egal wie Ihre ganz persönliche Antwort für den Moment ausfällt, klar ist: wir Menschen sind auf Beziehung und Resonanz angelegt und genau darin liegt die Chance, ein eigenes Selbst zu entwickeln und zu stärken (vgl. Joachim Bauer: Wie wir werden, wer wir sind, 2019). In der Begegnung mit Menschen und indem wir mit anderen in Beziehung gehen, können wir wachsen, manchmal auch über uns selbst hinaus. „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Martin Buber, Ich und Du, 1923).
Und damit komme ich wieder zum Schreiben, zum Schreiben in der Gruppe. In der Schreibgruppe bleiben wir mit unserem „Selbst“ nicht allein, wir nehmen Verbindung miteinander auf, bekommen unterschiedliche Wahrnehmungen und Perspektiven zur Verfügung gestellt, geben uns gegenseitig Resonanz. Wir haben ein Gegenüber, das uns anschaut und zuhört und uns Aufmerksamkeit und Wertschätzung schenkt. Wir teilen die Freude am Schreiben, spüren die Energie, berühren uns mit Worten, lassen uns inspirieren. Wir teilen unsere Geschichten miteinander, wir nehmen Anteil am Leben der anderen. Wir sind gemeinsam unterwegs, wir haben Wegbegleiter*innen auf unserer Entdeckungsreise zu uns selbst.
Ein Schreibtag mit einer Gruppe hat stille und konzentrierte Phasen zum Schreiben, und es gibt Vorlesezeiten, in denen wir unser Geschriebenes hörbar in die Mitte bringen (Prinzip Freiwilligkeit). In der Schreibgruppe darf ich sowohl bei mir als auch bei den anderen sein, ich kann die Perspektive wechseln und mich selbst im anderen erkennen. „Bei sich beginnen, aber nicht bei sich enden“ heißt es bei Martin Buber (Der Weg des Menschen, S. 63). Wir sollen uns „erfassen“, doch nicht nur mit uns selbst befassen, auf uns selbst besinnen und dabei „die Welt im Sinn haben“ (s.o. S. 68), die Welt, in der wir alle ein wichtiger Teil sind.
Zum Schluss noch eine Einladung zum Schreiben, ein Schreibimpuls von Silke Heimes (aus: Schreiben als Selbstcoaching, S. 75): Der dialogische Geist
Frage 1: Martin Buber sprach davon, dass der menschliche Geist nicht monologisch, sondern dialogisch sei, und Viktor Frankl sagte, dass es das Lebens selbst sei, das uns ständig Fragen stellt: Welche Fragen stellt Ihnen das Leben aktuell?
Frage2: Welche Antworten können Sie dem Leben aktuell geben?
Wer sich am Aufruf der Zeitschrift Publik-Forum schreibend beteiligen will, dem sei das Erzählprojekt „Die Liebe in Zeiten von Corona“ empfohlen.
Wer neugierig geworden ist auf das Schreiben in der Gruppe, der kann sich über den biografischen Schreibtag „Das Leben ist eine Wundertüte“ informieren.
Quellenangaben:
Silke Heimes, Schreiben als Selbstcoaching, 2014
Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind, Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2019
Marina Gaenslen, Ich bin dann mal ganz bei mir, Eine Reise ins eigene Leben, 2015
Martin Buber, Der Weg des Menschen ( nach einem Vortrag aus dem Jahr 1947), 2018