Was will der Bauch? Was fühlt das Herz? Was denkt der Kopf zu dem, was ich gerade höre, erlebe? Wenn ich den schweren Stein, das „Redeobjekt“ für den Dialogprozess, in der Hand halte und mein Fühlen und Denken zur Sprache und in die Mitte bringe, gebe ich meinen Worten Gewicht. Meine Empfindungen, meine Gedanken sind wichtig. Worte in den Raum gesprochen, bekommen Raum zum Wirken. Meine Worte und die Worte der anderen werden nicht bewertet, sie werden gemeinsam erkundet. Wir gehen miteinander auf die Suche, mit Interesse und Neugier und in größtmöglicher Wahrhaftigkeit und Offenheit, so wie es für jeden Einzelnen jetzt und hier machbar ist. In der Haltung des Lernens begegnen wir uns auf Augenhöhe und mit „radikalem Respekt“, gegenüber Ambivalenzen und Widersprüchen in uns selbst und zwischen uns. Wir ziehen in Betracht, dass das Gegenüber Recht haben könnte mit dem was es sagt und wir möchten wissen, wie dessen Weltsicht zustande kommt, worauf sie aufgebaut ist. Wir stellen echte und interessierte Fragen und keine mit denen wir uns selbst in Szene setzen oder in Führung bringen wollen. Es geht beim Dialog nicht um den Austausch von Meinungen und Statements, es geht um das Entdecken der Welten hinter den Worten, es geht um das wirkliche Verstehen wollen.
„Wenn ich im Dialog in der Lage bin, meine Rolle als Wissender aufzugeben für das Interesse an dem, was anders ist als ich es bereits kenne, kann ich ‚unschuldige“ Fragen stellen, die aus einem tiefen Bedürfnis geboren sind, etwas wirklich zu verstehen.“ (Hartkemeyer: Dialogische Intelligenz, S. 134)
Zwölf Teilnehmende haben sich auf das Experiment eingelassen und im Rahmen einer zweitägigen Fortbildung (11. bis 12. November 2019) einen Dialog-Prozess erlebt, der eine andere Art des Miteinandersprechens erfahrbar machen wollte. Es galt sich auf das Andere im Anderen einzulassen und zugleich das Eigene zu offenbaren, sich persönlich zu zeigen – ganz ohne Maske und Selbstdarstellungsbühne. Marianne Jensen und Arno Hermer gaben als Kursleitende dem Dialog die Form, um in „lebendiger Gegenseitigkeit“ (Martin Buber) dem Neuen, Mutigen und dem Freiem Raum zu geben.
14 Menschen sitzen im Kreis und in der Mitte liegt ein handgroßer Stein. Die Kursleitenden sind wie die Teilnehmenden am Dialog-Prozess gleichwertig beteiligt und stellen ihr Erleben zur Verfügung. Wer den Stein in der Hand hält, hat die Aufmerksamkeit der anderen, er oder sie darf reden oder auch schweigen, alle anderen hören zu. Es gibt kein Dazwischenreden, kein wildes Durcheinandersprechen. Der Stein sorgt für die Struktur und ist zugleich ein Mittel zur Entschleunigung der Kommunikation. Im Gegensatz zum üblichen schnellen Hin und Her lässt der Dialog Zeit, das eigene Denken und das der Anderen zu beobachten. Für die Dialogrunden gibt es einen klaren Rahmen, zwei Varianten wechseln sich ab. Beim „Spiraldialog“ wird der Stein von Hand zu Hand an den Sitznachbarn, die Sitznachbarin weitergegeben, das kann mehrere Runden so gehen. Bei der klassischen Form wird der Stein aus der Mitte geholt und wieder in die Mitte zurückgelegt, durch diesen Zwischenweg wird der Prozess nochmal leicht verzögert. Für die Ungeduldigen hat es den Vorteil, dass sie schnell zugreifen können und nicht warten müssen, bis der Stein bei ihnen ist.
Die erste Dialogrunde leitet Arno mit einem Spruch aus der indianischen Kultur ein: „Sprich von Herzen und fasse dich kurz“. Eine Aufforderung, von dem zu reden, was mich persönlich angeht, was mir wichtig ist und wesentlich erscheint, erläutern die Kursleitenden. Es geht nicht darum, mit Formulierungen zu brillieren, es geht um das Bemühen, sich authentisch zu zeigen und das Herz sprechen zu lassen.
Wir kommen ins Reden und noch mehr ins Zuhören. Und ich spüre, wer anderen gut zuhören will, muss sich zuerst selbst zuhören, es gilt achtsam wahrzunehmen, was das Gehörte in mir auslöst. Hin und wieder ertappe mich in meinem Verhaftet-sein in gewohnten Denkmustern, nehme Blockaden wahr, mache mir meine innere Regungen bewusst, erwische mich dabei, wie ich mir schon eine Antwort zurecht lege und gar nicht mehr richtig zuhöre. „Generatives Zuhören“ ist gefragt und das bedeutet, durch offenes und aufmerksames Zuhören etwas entstehen zu lassen, d.h. Neues zu generieren, in mir selbst und in der Dialoggruppe. Denkprozesse statt Denkprodukte.
„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ (Viktor Frankl)
Ein Seminar in Dialogform bedeutet keineswegs, nur im Kreis zu sitzen und miteinander zu reden, zumindest nicht bei Arno und Marianne. Das Trainer-Team legt Wert darauf, dass wir alle mit unseren Sinnen und mit Herz, Kopf und Bauch zugegen sind. Auch der Körper lernt mit, wir üben uns darin, ihn als Innenraum zu erspüren und wir spüren den Raum um uns herum, mal als Farbraum, mal als Klangraum. Wir schwingen uns ein, malen schwungvolle Schleifenblüten, wir bringen unsere unterschiedlichen Seiten zum Klingen, mit der Tambura, dem selbstgebauten Seiteninstrument von Marianne. Wir tönen gemeinsam und klingen zusammen. Wir bewegen uns aufeinander zu, probieren verschiedene Geschwindigkeiten aus. Wir trainieren unser Fingerspitzengefühl mit Stöcken, die wir zu zweit durch den Raum balancieren. Wir stehen uns gegenüber und bringen uns auf Augenhöhe, wählen die angemessene Distanz.
Die bewegten und meditativen Übungen sind ein ergänzendes Erfahrungsangebot und fördern den Perspektivwechsel, wir nehmen verschiedene Sichtweisen ein, erforschen unser eigenes Fühlen und Denken. Wir lassen die Gedanken frei im Raum schweben, beobachten unseren Geist und lassen entstehen, was entstehen will. Wir kommen miteinander in Verbindung, auf einer neuen Erfahrungsebene.
Der Stein in meiner Hand, er ging schon durch viele Hände, nach mehreren Runden fühlt er sich ganz warm an. Er speichert die Energie, die menschliche Wärme, die im Raum ist. Wir können das Gesagte, das Erlebte und Erfahrene so stehen lassen. Am Ende der Fortbildung überraschen Marianne und Arno uns mit einem besonderen Geschenk. Wertvolle Denkimpulse auf weißen Karten in einem kunstvoll gestalteten Briefumschlag. Eine spannende Nachlese in kleiner Form, mit individueller Note, schön und wertvoll. Die Erkundung kann weiter gehen, ich entdecke den einen oder anderen Gedanken, der mich anspricht. Zum Beispiel diesen über das Zusammenspiel:
„Wer sich im Dialog befindet, belehrt nicht, spricht konkret und persönlich; hat Kontakt zu eigenen Gefühlen, Bedürfnissen, Erfahrungen. Das Erkunden der anderen Position verbindet Sprechen und Hören: Dabei bleibt die eigene Meinung in der Schwebe, bereit zur Änderung. All das ruht auf Respekt, Offenheit und der Haltung des Lernenden.“
14. 11. 2019 / Elke Heldmann-Kiesel