Gastartikel: Flipped Lernen im Rahmen von Online-Bildungsangeboten

Dieser Gastartikel von Nele Hirsch ist zuerst in ihrem Blog erschienen und steht unter einer CC-BY Lizenz.

Als Flipped (oder auch ‘Inverted’) Classroom wird meist eine Methode bezeichnet, bei der die Erarbeitung von Lerninhalten einer gemeinsamen Lernphase vorgeschaltet wird. Auf diese Weise kann die lernende Person sie in ihrem eigenen Tempo gestalten. In der gemeinsamen Lernphase ist dann Raum für Fragen, Übungen und Austausch.

Für mich habe ich den Begriff als gute Möglichkeit bei der Gestaltung von Online-Bildungsangeboten erlebt, um das Lehren und Lernen in einem rein oder überwiegend virtuellen Kontext für alle Beteiligten gewinnbringender zu gestalten. Denn wenn auch hier ‘geflipped’ wird, dann ist der erste Schritt getan, um Online-Bildungsangebote nicht fast ausschließlich als Videokonferenzen zu gestalten, wie es häufig die Erwartungshaltung ist. Stattdessen kann das Online-Lernangebot als sinnvolle Kombination zwischen asynchronen und synchronen Online-Lernphasen gestaltet werden. Für die ‘Flipped’-Komponenten im asynchronen Teil ergeben sich hierbei vielfältige Möglichkeiten.

Was und wie lässt sich ‘flippen’?

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit stelle ich im folgenden 5 mögliche Flipped-Varianten vor:

1. Input vermitteln

Die wahrscheinlich häufigste Flipped Variante ist es, den ‘Input’ zu einem Lerngegenstand voranzustellen. In der gemeinsamen Lernphase kann dazu dann Austausch stattfinden. In Online-Lernangeboten lässt sich dies ebenso gestalten. Lernende erhalten dann Materialien zum Selbstlernen per Mail zugesandt oder auf einer Website zusammengestellt. Anschließend wird zu einer Videokonferenz eingeladen, bei der noch offene Fragen geklärt bzw. gemeinsam über das Erlernte diskutiert wird und Austausch stattfinden kann.

Bei Lerngruppen, die sich untereinander noch nicht kennen bzw. nur für dieses eine Lernangebot zusammenkommen, wie es in der Erwachsenenbildung häufig der Fall ist, habe ich die Erfahrung gemacht, dass statt des klassischen Flippens ein Dreiklang zwischen Vorstellung/ Einführung in einer Videokonferenz, anschließénder Selbstlernphase und dann einer abschließenden Videokonferenz noch gewinnbringender ist. Denn oft melden sich Lernende zu einem Lernangebot, weil es irgendwie interessant klingt. Hier kann es sehr unterstützen und den Lernenden auch Zeit sparen, wenn kurz vorab vorgestellt wird, um was es bei dem Thema eigentlich geht und warum es relevant ist. Noch wichtiger ist, dass auf diese Weise ein direkter Kontakt zwischen mir als lehrender Person und den Lernenden erfolgt. Ich erhalte aus diesen Gründen oft die Rückmeldung, dass die Einstiegsvideokonferenz sehr gut war, weil sie Lust gemacht hat aufs Selbstlernen und es ansonsten schwieriger gewesen wäre, Motivation zu finden.

Bei der Gestaltung des ‘Flipped’-Angebot hilft es, dass man im Internet auf eine Vielzahl von offen nutzbaren Materialien zurückgreifen kann. Nötig ist deshalb nicht, alles selbst zu erstellen, sondern für die Lernenden eine Zusammenstellung klug zu kuratieren. Für ein gutes Flipped-Lernangebot gilt dabei:

  • Möglichst komprimiert zusammenstellen (Nicht: Alles, was es zum Thema gibt)
  • Materialien gut erläutern/ kommentieren/ zusammenfassen. Eine unkommentierte Linkliste ist höchstens eine Vorarbeit für einen selbst – Lernende fangen damit kaum etwas an.
  • Lernpfade anbieten. Das heißt, vorschlagen, wie Lernende die Materialien nacheinander durcharbeiten können (Natürlich sollten Lernende aber auch eigene Lernpfade wählen können)
  • Persönliche Ansprachen und Relevanz für das Thema/ den Hintergrund der jeweiligen Gruppe deutlich machen (Hier sind es oft Kleinigkeiten, die einen Unterschied machen, z.B. welche Beispiele wähle ich zur Verdeutlichung eines Sachverhalts aus. Deshalb sind Flipped Materialien auch nie einfach eins zu eins von einem Lernangebot zum nächsten übertragbar, sondern sollten immer umgestaltet/ angepasst werden.)
  • Videos oder auch Audios werden häufig sehr positiv angenommen, als wenn es fast nur Text gibt. Auch kurze Selbstlernüberprüfungen mit H5P nutze ich gerne.

Zur Suche nach freier Bildung (nicht ausschließlich OER, aber viel) kann die Suchmaschine WirLernenOnline genutzt werden. Noch ist sie im Aufbau. Die einfachste Form der Zusammenstellung als ‘Website’ (wenn man über keinen eigenen Blog verfügt) geht mit der Software CodiMD.

2. Kennenlernen organisieren und Austausch beginnen

Insbesondere bei länger angelegten Online-Bildungsangeboten bietet es sich an, Kennenlernen und Austauschmöglichkeit schon vor dem ersten synchronen Termin zu ermöglichen. Dies ist dann keine klassische Flipped-Variante, aber wird hier aufgenommen, weil es wie eine Art Check-In vor dem eigentlichen Lernangebot gestaltet werden kann. Diese Flipped-Variante kann je nach Lernumgebung, Thema und Zielgruppe unterschiedlich gestaltet werden. Ich habe unter anderem gute Erfahrungen mit den folgenden Möglichkeiten gemacht:

  • Lernende werden in eine Messenger-Gruppe (z.B. Telegram) eingeladen, mit der Bitte, sich dort kurz vorzustellen. Diese Gruppe kann dann auch im weiteren Verlauf des Online-Bildungsangebotes für Austausch genutzt werden. Ähnliches funktioniert natürlich auch mit einem einfachen Mailverteiler.
  • Es wird ein KanBan Board eingerichtet (z.B. bei Cryptpad und für jede lernende Person eine ‘Spalte’ angelegt. Lernende können ihre Spalte dann mit Karten füllen – entweder zu vorgegebenen Oberbegriffen (Deine Tätigkeit, Suche …, Biete …, etwas Persönliches) oder auch ganz frei.
  • In Learning Management Systemen oder CMS-Lernumgebungen z.B. mit WordPress kann die Aufforderung sein, die eigene Profilseite auszufüllen und/ oder auf einen Vorstellungsthread in einem Forum bzw. mit Kommentar zu einem Blogbeitrag zu antworten.
  • Schön ist auch ein Einstieg mit einer Umfrage, auf die dann auch im weiteren Verlauf des Kurses Bezug genommen werden kann. Weit verbreitet ist hier z.B. Mentimeter, mit dem Schlagworte zum Lernthema oder auch Einschätzungen zur Gruppe abgefragt werden können.
  • Spielerisch wird es mit Tools wie Scri.ch. Hier kann eine Form vorgezeichnet werden (z.B. ein Kreis) und dann der Link dazu geteilt werden. Lernende setzen das Bild individuell fort – und generieren dazu dann jeweils einen Link den sie teilen. Die unterschiedlichen entstehenden Bilder können dann miteinander verglichen werden.

3. Fragen und Interessen sammeln

Meiner Erfahrung nach ist es in einem Präsenzangebot deutlich einfacher, auf die Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmenden spontan zu reagieren, als in einem rein virtuellen Setting. Gerade wenn für eine Videokonferenz von Organisationen ein Input zu einem bestimmten Thema oder einer bestimmten Fragestellung erwartet wird, dann kann es deshalb hilfreich sein, vorab Fragen/ Interessen abzufragen. Diese Abfrage ist dann der ‘Flipped’ Bereich des Lernangebots.

Die Abfrage hilft nicht nur mir als lehrende Person, weil ich einen Eindruck von den Teilnehmenden bekomme. Auch Lernende werden so vorab dazu herausgefordert, sich über ihr Lerninteresse Gedanken zu machen. Damit ist ein erster Schritt zu aktivem Lernen getan. (Vorab-Anfragen geraten natürlich dann an Grenzen, wenn zu einem Online-Lernangebot offen und ohne Anmeldung eingeladen wird. Ich habe es im Bereich der Erwachsenenbildung aber oft mit ‘Online-Lernangeboten mit Anmeldung’ zu tun.)

Auf Basis der eingereichten Fragen lässt sich dann der Input sehr viel passender gestalten, als es ansonsten möglich gewesen wäre. Lernende sind meinem Eindruck nach interessierter mit dabei, weil sie auf ‘ihre’ Frage warten – und nicht erst darauf, dass der Input endlich vorbei ist, so dass sie dann endlich ihre Frage stellen können. Spannend finde ich übrigens, dass sehr viele Rückmeldungen in Vorab-Anfragen zu meinem Thema, dem Online-Lehren und Lernen, sehr allgemein sind – zum Beispiel: ‘Ich kann mir noch gar nicht richtig etwas darunter vorstellen und suche einen Überblick.’ Das verdeutlicht den weiterhin großen Orientierungsbedarf in dem Thema.

Bei der Abfrage kann man sich überlegen, ob Teilnehmende die Fragen untereinander sehen können sollen oder nicht und ob sie anonym eingereicht werden sollen oder nicht. Ich habe schon mit unterschiedlichen Varianten experimentiert – und alle haben Vor- und Nachteile. Die beiden Pole sind:

  • Mit Namen und individuell geht am allereinfachsten per Mail. Dafür spricht, dass ich dann auch persönlich darauf antworten kann. Oft lassen sich kleinere Fragen dann auch schon direkt auf diesem Weg klären. Dagegen spricht, dass es natürlich eine Hürde sein kann, über diesen Weg eine auch vermeintlich dumme Frage zu stellen.
  • Anonym und mit Blick auf alle Ergebnisse in der Gruppe geht toll mit dem ‘Wall’-Tool mit Flinga.fi. Schön ist daran, dass Lernende sich schnell als Lerngruppe fühlen und man auch Gewichtungen/ Priorisierungen von eingereichten Fragen ermöglichen kann. Nachteilig ist, dass Fragen oft sehr schnell in eine Richtung gehen, d.h. die Sammlung weniger vielfältig werden kann.

Spezifische Tools fürs Fragen sammeln sind Fragmich.xyz oder Frag.jetzt. Bei der Nutzung dieser Tools ist evtl. gar keine Präsentation oder ähnliches mehr nötig, sondern man kann sie direkt nutzen, um Schritt für Schritt die Fragen vorzustellen und zu beantworten.

4. Forschungsfrage/ Lernfrage entwickeln

Anstatt Fragen an die lehrenden Person zu stellen, können Lernende auch Fragen für sich selbst entwickeln, was fürs Lernen meist sehr viel wirkungsvoller ist. Gedacht sind diese im Sinne einer Forschungsfrage: Was möchte ich herausfinden/ lernen? Im großen Maßstab habe ich diesen Ansatz im Corporate Learning Mooc kennen gelernt, bei dem die Lernenden in der ersten Woche aufgerufen waren, ihr Lernziel zu bestimmen. Wenn dafür z.B. die Kommentarfunktion eines Blogs genutzt wird, können auch andere Lernende darauf reagieren und es können sich gegebenenfalls Lerngruppen bilden.

Die Flipped-Variante der Forschungsfragen-Entwicklung eignet sich besonders gut für offene Lernformate, in der Lernende anschließend sehr eigenständig ihren Lernprozess gestalten können. Ich habe aber auch bei eher traditionellen / inputorientierten Videokonferenzen die Erfahrung gemacht, dass es für Lernende hilfreich ist, wenn sie vorab für sich einen ‘roten Faden zum Zuhören’ definiert haben. Die Gestaltung ist in diesem Fall auch nicht aufwändig. Oft reicht es aus, dies als Empfehlung an Lernende mit der Einladung zur Videokonferenz zu verschicken. Während der Ankommenszeit kann dann dazu eingeladen werden, die mitgebrachte Lernfrage im Chat zu teilen. Und in der Abschlussrunde kann gefragt werden: Inwieweit habe ich Antworten auf meine Frage gefunden? Was brauche ich jetzt, um weiterlernen zu können?

5. Impulse weitergeben

Ebenfalls im Bereich der offenen Lernformate angesiedelt, ist die ‘Flipped’-Variante des ‘Impulse weitergeben’. Ich habe sie gemeinsam mit Kristin für das Flipped Online Barcamp #Schuleneudenken am 20. Juni erprobt. Die ursprüngliche Idee dazu stammt von Jöran. Flipped Online Barcamp bedeutete in diesem Fall, dass vorab Impulse gesammelt wurden. In den Sessions beim Barcamp war dann Zeit zu Austausch und Diskussion. Wie bei einem Barcamp üblich, konnten sich Teilgebende auswählen, zu welchem Impuls sie diskutieren wollten. Und natürlich konnten auch alle Impulse einreichen.

Wir haben gestern die Dokumentation zu der Veranstaltung veröffentlicht. Die zahlreichen Mitschriften zeigen den umfangreichen und vielfältigen Austausch, der durch das Flipped Format stattfinden konnte.

Ich habe bei der Durchführung gelernt, dass es sehr wichtig ist, gut zu kommunizieren, was mit Impuls gemeint ist – und insbesondere dass die impulsgebende Person nicht zwangsläufig in der Session mit dabei sein wird. Mit dieser Ergänzung halte ich das Format für sehr gewinnbringend und freue mich auf weiteres Ausprobieren damit.

Um die Gruppen nicht ganz sich selbst zu überlassen, haben wir die Rolle der Diskussionskümerer/innen angeregt. Alle konnten sich als Diskussionskümmerer*in melden. Sie erhielten vorab ein kurzes Briefing, wie Diskussionen strukturiert und moderiert werden können – und konnten auf diese Weise die Diskussionsprozesse und auch die Gruppenfindung unterstützen. Wer unser Briefing weiternutzen/ umschreiben will, findet es hier. Darin ist zugleich die ‘Flipped-Methode’ genauer beschrieben. Meine Empfehlung für mögliche zukünftige Flipped Barcamps ist es, ausreichend Zeit in die Suche und Vorbereitung von Diskussionskümmerer*innen zu stecken. Für das Gelingen des Barcamps können sie sehr entscheidend sein.

Was sind wichtige Faktoren zum Gelingen von Flipped-Bildungsangeboten im Online-Kontext?

Bei allen vorgestellten Flipped-Möglichkeiten gibt es drei übergreifende Gelingensfaktoren, die ich zur Beachtung empfehle:

  • Niederschwellige Nutzung: Das Flipped-Angebot muss so einfach wie möglich sein, so dass sich alle einfach und niederschwellig daran beteiligen können. Was geht und was nicht, liegt dann natürlich immer sehr an der jeweiligen Zielgruppe.
  • Klare Kommunikation: Es ist wichtig, klar zu kommunizieren, was bei dem Flipped Angebot gemacht werden kann/ soll – und welche Rolle das Flipped Angebot für das weitere Bildungsangebot spielt – z.B.: Wird Input z.B. vorausgesetzt und ohne ihn gesehen zu haben, kann sich eine lernende Person nicht beteiligen? Oder handelt es sich um eine optionale Möglichkeit?
  • Offenheit zum Ausprobieren: Wie in allen Online-Bildungsangeboten gilt auch hier: Sowohl lehrende und auch lernende Personen können das Flipped Angebot als Lernmöglichkeit im Bereich Online-Lernen nutzen – und es wird umso besser gelingen, je mehr es die Möglichkeit gibt, dabei auch Fehler zu machen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert