Das Leben ist eine Wundertüte

In diesem Beitrag geht es um das Schreiben, das Schreiben, das unser Leben begleitet, das uns in Kontakt bringt mit uns selbst und mit den anderen Menschen, die mit uns im Raum sind. Im Raum des Schreibens.

Ich erzähle von einem Schreibtag (3.9.2020) mit sieben schreibenden Frauen und mir als Schreibgruppenleiterin. Ein Tag, der unter dem Motto stand: Das Leben ist eine Wundertüte – öffne sie und staune.

Eine Wundertüte raschelt verlockend, macht neugierig, steckt voller Überraschun-gen, bringt etwas vom freudigen Herzklopfen der Kindheit zurück. Wie eine Wun-dertüte sollte auch der Schreibtag sein, ein bunter Überraschungsmix, der ins krea-tive Spiel mit dem Zufall und mit den Worten lockt, in den Raum der Inspiration.

Die Teilnehmerinnen waren eingeladen, wieder das staunende Kind in sich zu ent-decken, die Schatzsucherin und Wundersammlerin willkommen zu heißen – acht-sam und aufmerksam für die kleinen und großen Wunder, die das Leben für uns bereithält.

Beim lebensbegleitenden Schreiben würdigen wir das Leben, so wie es war und ist, lassen das Unvollkommene gelten und halten Ausschau nach dem was noch gelebt werden, was noch wachsen und reifen will. Mit unserem Schreiben nehmen wir uns selbst und unser Leben wohlwollend in den Blick, richten uns darauf aus, weniger zu werten und mehr wertzuschätzen. In dieser Haltung finden wir Zugang zu unseren Kraftquellen und aktivieren unsere Ressourcen. Das Wunder, das wir selbst vollbringen können, ist das Wunder der Wahrnehmung und der Wertschät-zung – uns selbst und den anderen gegenüber.

„Sei klug und halte dich an Wunder“ (Mascha Kaléko)

Mit dem Akt des Schreibens schenken die Teilnehmerinnen dem Wunder ihre volle Aufmerksamkeit, öffnen ihre Augen und Ohren, machen sich mit allen Sinnen emp-fangsbereit, für das Große im Kleinen, für das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen, für den verborgenen Zauber inmitten vom Alltag. Dies ist mein Anliegen und entsprechend habe ich die Schreibimpulse zusammengestellt. Wir machen uns auf die „Suche nach dem Wunderbaren“ (Konstantin Wecker), das überall darauf wartet, von uns entdeckt zu werden. Vielleicht in der Vergangenheit, vielleicht hier und jetzt direkt vor unserer Nase oder im Möglichkeitsraum des Zukünftigen. Wir bringen un-sere Entdeckungen zu Papier, bringen uns selbst zum Ausdruck und das eigene Leben zur Sprache, jede auf ihre Art und genau diese eigene Art würdigen wir, in-dem wir uns gegenseitig Gehör und Resonanz schenken. In einer Schreibgruppe liegt darin das besondere Geschenk, wir schreiben Geschichten und lesen sie uns gegenseitig vor. Diese Geschichten der anderen eröffnen uns wieder neue Per-spektiven und Anknüpfungsmöglichkeiten, bereichern uns mit ihren Gedanken und Ideen, lassen uns teilhaben an den Geschichten, die das Leben schreibt. „Nicht nur das Schreiben macht großen Spaß auch das Zuhören“, bringt es eine Teilnehmerin auf den Punkt.
„Alles, was wir in diesem Leben tun können: achtsam mit uns und unseren Mitmen-schen sein und immer wieder aufs Neue versuchen, uns den Menschen, Dingen und uns selbst auf neugierige und respektvolle Weise anzunähern, uns auf allen Ebenen und mit allen Sinnen zu erforschen und zu entdecken, was sich uns offen-baren mag“ (Silke Heimes, Schreiben als Selbstcoaching, S. 14).

Kreative Schreibimpulse

Der Schreibtag beginnt mit dem Ankommen im Raum und in der Gruppe. Ankom-men, dieses Wort dient als erster Schreibimpuls. 10 Minuten lang schreiben die Teilnehmerinnen, was ihnen zu diesem Wort einfällt. Erstaunlich wieviel wir vonei-nander erfahren, in der ersten Vorleserunde. Die Schreibenden zeigen sich mit ih-ren persönlichen Gedanken, mit ihren Unsicherheiten, ihren Fragen, ihrer Vorfreu-de. Sie erzählen vom Ankommen in einem neuen Lebensgefühl, vom Ankommen in Deutschland oder in einer neuen Stadt, vom Ankommen mit dem Stift oder mit dem Zug und vom wieder Ankommen nach einer Erkrankung.
Der nächste Schreibimpuls ist eine „Wörter-Wundertüte“ – alle Wörter in der Tüte sollen in der zu schreibenden Geschichte vorkommen, nach zehn Minuten kommt noch ein Überraschungswort hinzu. Die Schreibenden können wählen zwischen: Pfefferminz, Luftschlange und Garnrolle.
Nach dieser Einstimmung liegt der Stift der Schreibenden schon etwas lockerer in der Hand, sie schreiben jetzt über ein Wunder, etwas Wundervolles, das sie kürz-lich erlebt haben oder an das sie sich gerne erinnern und haben 15 Minuten Zeit. Im Anschluss an die Schreibzeit lauschen wir den sieben Wundergeschichten.
Mit dem Schreibimpuls: „Als das Kind Kind war“ (aus einem Gedicht von Peter Handke) werden Erinnerungsschnipsel des staunenden Kindes eingesammelt. Beim Vorlesen tragen wir die einzelnen Schnipsel zusammen, so entsteht eine ge-meinsame Erinnerungscollage des Staunens, hier einige Beispiele: Als das Kind Kind war, staunte es, dass der Würfel Augen hatte. – Als das Kind Kind war, staunte es über den Hall von den Bällen, die an die Wand geworfen wurden. – Als das Kind Kind war, staunte es über die Geschwindigkeit, die es bei der Abfahrt eines Hügels mit dem Fahrrad erreichte. – Als das Kind Kind war, staunte es über den feuchten Nebel im Keller am Waschtag. – Als das Kind Kind war, vertraute es dem Wasser mehr als dem Boden. Das Wasser trägt.

„Das Staunen ist es, das die Welt verwandelt, das Wunder möglich macht und sie sehen lehrt“ (Michael Lipps, hingabe und eigensinn).

Nach der Mittagspause verteile ich an jede Teilnehmerin einen Lunaria-Zweig (Sil-berblatt), damit üben sich die Schreibenden in der sinnlichen Wahrnehmung und in der fühlenden Betrachtung. Es gilt den Zweig zunächst mit den Händen zu ertas-ten – zu schauen – zu lauschen – zu spüren. Anschließend schreiben die Teilneh-menden über das, was sie wahrgenommen haben und was an Gedanken und Empfindungen in ihnen hoch gekommen ist.
Es entstehen sinnliche Wahrnehmungsprotokolle und poetische Werke in denen das braun gefleckte Silberblatt zur silbern schimmernden Schönheit erwacht, zart, vielschichtig, glänzend, lichtdurchlässig, wetterbeständig, widerstandsfähig, edel wie Seide, dünn wie Seidenpapier, formschön wie Perlmutt-Ohrringe.

Zeit für Wunder: Die Schreibenden können aus mehreren Schreibimpulsen wäh-len, die dinglich angereichert werden. Zunächst gilt es, den Inhalt einer kleinen Schachtel visuell und haptisch zu inspizieren, ein Papier aufzurollen, einen Knopf in der Hand zu halten und eingehend zu betrachten. Die Empfehlung ist, mit dem Impuls zu beginnen, der am meisten lockt, der spontanen Eingebung zu folgen und sich dem Strom der Gedanken hinzugeben. Wenn noch Zeit ist, kann noch eine zweite Möglichkeit ausprobiert werden. Im Angebot sind folgende Schreibimpulse:

Geschichten in der Wunderschachtel: In einer streichholzgroßen Schachtel befin-den sich ein Bild (eingeklebt auf dem Boden) und weitere Dinge als assoziative An-regung (Muscheln, Sonnenblumensamen, Samenkapseln vom Klatschmohn, gol-dener Faden, weiße Feder, rostiges Schräubchen, …). Mal führt der Inhalt zu einem Tag am Meer, mal zum Traum vom Häuschen im Grünen, mal poetisch in die wohli-ge goldene Wärme unter einem weiten Himmel.

Poetische Wunderwerke: Wer will kann sich in den Garten vorm Seminarraum set-zen und einen Haiku schreiben oder einen Haiku-ähnlichen Drei-Zeiler mit 17 Sil-ben. Die Anleitung für das kürzeste Gedicht der Welt gibt es auf Papier – aber alles ohne Perfektionsanspruch.

Kleine Wunderdinge ganz groß: Ein Perlmuttknopf wird bewundert, von einer Schneiderin, sie ist die Protagonistinnen der Geschichte. Beim genauen Hinschau-en fallen ihr die zwei unterschiedlichen Seiten des Knopfs auf: Die eine ist „glatt und schillernd“ und erinnert an das „Farbspiel einer Öl-Pfütze“, die andere ist „un-eben“ und sieht aus wie eine felsige Landschaft.

Ein Bild von einer wundersamen Wunderkammer wird von mehreren gewählt. Es wird zum Sinnbild für die Bildungsarbeit, inspiriert zu tiefsinnigen Gedanken und führt in eine Geschichte über Marie. Sie ist eine Sammlerin und Bewunderin der kleinen schlichten Dinge, die im Mondlicht ihre Bühne bekommen und ihren Blü-tenzauber entfalten.

Raum der Inspiration

Als Leiterin von Schreibgruppen verstehe ich mich als Ideengeberin. Mit meinen Impulsen will ich ins Freie locken, in den weiten Raum des Schreibens – lebensbe-gleitend – lebensberührend – lebensintensivierend. Ich lade ein in den Raum des Erinnerns und Erfindens, des Endeckens und Erkundens. Ich lasse Raum: Frei-raum, Spielraum, Gestaltungsraum. Raum, in dem sich Gutes und Schönes entwi-ckeln und entfalten, das Authentische und Wahrhaftige persönlich zeigen kann. Ich lasse Raum, den die Schreibenden mit ihren Gefühlen, Gedanken und Geschichten füllen. Das ist für mich der Raum der Inspiration.
Corona-bedingt sitzen wir mit großem Abstand kreisförmig im Raum verteilt, jede allein an einem Tisch. Wenn wir den Platz verlassen setzen wir den Mund-Nasen-Schutz auf. Können wir durch das Schreiben Nähe schaffen trotz räumlicher Dis-tanz, fassen wir Vertrauen trotz anfänglicher Fremdheit in der Gruppe? Können wir den leeren Raum in unserer Mitte füllen? Diese Fragen treiben mich um, bevor es losgeht. „Endlich mal wieder in echt im Raum, von Angesicht zu Angesicht“, sagt eine Teilnehmerin in die Runde. Ja, die leibhaftige Präsenz der anderen ist zu spü-ren, von Anfang an und noch viel mehr am Schluss. Das Zwischenmenschliche ist auch ein „zwischenleibliches Geschehen“ (Maurice Merleau-Ponty), wir sind kör-perlich anwesend und nicht abgekoppelt von unseren leiblichen Erfahrungen. Als Resonanzkörper stimmen und schwingen wir uns aufeinander ein. Wenn es still ist und alle konzentriert schreiben, wenn wir den Stimmen lauschen, die uns mit ihren Worten berühren, nehmen wir auf unterschiedlichste Weise Verbindung miteinan-der auf. Wir gehen schreibend und lesend eine Beziehung ein. Jede schreibt für sich allein und zugleich schreiben wir zusammen, wir sind Teil einer Schreibge-meinschaft für einen Tag. Wir nehmen uns gegenseitig wahr, mit dem was wir schreiben und wie wir schreiben. Wir sehen den ganzen Menschen, in seiner Ge-stalt, mit seiner Mimik und Gestik, mit seiner Freude und seinen Tränen. Auch das Traurige und Schwere, das in den Texten durchscheint, nehmen wir zwischen den Zeilen wahr. Beim Schreiben spüren wir in uns hinein und zu den anderen hin. Wir spüren Worte in uns auf und lassen uns von den Worten berühren. Indem wir uns füreinander öffnen und aufeinander einlassen, kommen wir in ein kreatives Zu-sammenspiel des Schreibens. Wir sind Teil eines schöpferischen Prozesses, jede einzelne trägt ihren Teil dazu bei, mit ihrer Art bei sich selbst und dabei zu sein, mit ihrer Art zu schreiben.
Am Ende des Schreibtages ist die weiße Wundertüte reich gefüllt, jede Teilnehme-rin trägt darin ihre gesammelten Wunderwerke und „Wertschätze“ nach Hause. An der Seite, ragte ein perlmuttschimmernder Silberblatt-Zweig heraus.

„Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin;
wunderbar sind deine Werke,
und das erkennt meine Seele wohl.“
Psalm 139:14 (Lutherbibel 1912)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert